TV-Talk „Hart aber fair“ "Pflegenotstand, der sich zu einer Katastrophe entwickelt"

Düsseldorf · Probleme in der Pflege als Thema bei "Hart aber fair": Praktiker und Betroffene gaben einen Einblick in die Realität deutscher Pflegeheime und Krankenhäuser. Mit dabei war unter anderem Samuel Koch, der seit einem Unfall bei "Wetten, das..?" querschnittsgelähmt ist.

 Talkrunde bei "Hart aber Fair"

Talkrunde bei "Hart aber Fair"

Foto: Screenshot ARD

Darum ging's
Moderator Frank Plasberg diskutierte mit zwei Pflegekräften, einem Gesundheitsökonom, einem Altenheim-Betreiber und zwei Betroffenen über die Mängel in der Pflege in Deutschland. Was und wie viel muss der Staat tun, was jeder einzelne?

Darum ging's wirklich
Eine Pflegekraft in einem deutschen Altersheim ist pro Nachtschicht durchschnittlich für über 50 Senioren zuständig: zu wenig Personal, zu viele Pillen und Stress. Die Zustände in der Pflege kamen im Wahlkampf zwar vor, aber zu kurz, finden Menschen aus der Praxis. Nicht nur sie, auch Betroffene fordern, dass die Arbeit am Menschen in Deutschland besser bezahlt werden muss.

Die Gäste

· Alexander Jorde, Krankenpflege-Azubi im Krankenhaus

· Andrea Kaiser, Sportmoderatorin und Journalistin

· Claudia Moll, ausgebildete Altenpflegerin und nun SPD-Abgeordnete im Bundestag

· Jochen Pimpertz, Gesundheitsökonom am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln

· Stephan Baumann, privater Heimbetreiber und Verbandschef

· Samuel Koch, Schauspieler, seit einem Unfall querschnittsgelähmt

Frontverlauf
Der angehende Krankenpfleger Alexander Jorde wurde kürzlich unversehens bundesweit bekannt, als er Kanzlerin Angela Merkel im Wahlkampf scharf kritisierte: "Sie sind seit zwölf Jahren an der Regierung und haben meiner Ansicht nach nicht viel für die Pflege getan." In der Debatte bei "Hart aber fair" erwies sich der jüngste Teilnehmer zugleich als der engagierteste, der viel Applaus vom Publikum bekam. Er könne nicht nachvollziehen, warum Merkel die Pflege erst jetzt zur "Chefsache" erklärte, "das Problem besteht ja nicht erst seit gestern". Sie hätte seiner Meinung nach längst reagieren müssen. Der Krankenpfleger im zweiten Ausbildungsjahr sagte, dass er es trotzdem bisher nicht bereut habe, sich für diesen Beruf entschieden zu haben.

Claudia Moll ist die zweite Person aus der Praxis, die Frank Plasberg in die Runde eingeladen hatte. Bis Juli arbeitete sie über 20 Jahre lang in der Altenpflege. Nun hat sie sich in der Wahl gegen einen Juristen durchgesetzt und wird Bundestagsabgeordnete für die SPD. "Hat sich in den 20 Jahren etwas verbessert in der Pflege?", wollte Plasberg von ihr wissen. "Nein", sagte Moll direkt. Sie habe schon vor 20 Jahren gegen die Probleme demonstriert, und seither habe sich nichts getan.

"Was ist es einer Gesellschaft wert, sich um Pflegebedürftige zu kümmern?", fragt Stephan Baumann, Betreiber eines Altenheimes, rhetorisch in die Runde. Er sagt, dass die Pflege in Deutschland über keine ausreichende Lobby verfüge, und keine, wie sie einer so großen Wirtschaftsnation entspreche.

Samuel Koch, der seit einem Unfall in der ZDF-Sendung "Wetten, dass..?" querschnittsgelähmt im Rollstuhl sitzt, erzählt, dass er als Schüler ein Praktikum in einem Behindertenheim gemacht habe, das ihm die Augen geöffnet habe. Plasberg will von dem 30-Jährigen wissen, ob er Verständnis habe für Menschen, die sich etwa über Staus auf Autobahnen aufregen. "Ja, schon, aber das ist unklug", sagt Koch.

Plasberg lenkt an diesem Punkt die Diskussion zur Statistik um. So kommen in Deutschland 13 Patienten auf eine Pflegefachkraft, mehr als doppelt so viele wie in Norwegen und Amerika. In der Nacht ist die Lage um ein Vielfaches angespannter. Dann ist eine Pflegekraft auch häufig alleine im Dienst. Die Altenpflegerin Claudia Moll berichtet von Nächten, in denen sie als Alleinverantwortliche nur mit zwei Helfern für über 50 alte und kranke Senioren zuständig war. Einmal sei der Noro-Virus ausgebrochen. Die vorherige Pflegekraft habe ihr noch vor die Füße gekotzt, als diese sich verabschiedete, dann sei sie völlig auf sich gestellt gewesen, musste in ihrer Not die Putzfrau um Hilfe bitten.

Aufgrund vorgegebener Schlüssel und gesetzlicher Regelungen sei es schwierig, zusätzliches Personal einzustellen, sagt Baumann. "Das ist doch Planwirtschaft, ich dachte, das ist mit der DDR untergegangen!", ruft Plasberg erstaunt aus.

Samuel Koch erzählt, dass er vor allem in der Schweiz gepflegt wurde, wo der Verteilungsschlüssel noch etwas besser sei. "Und selbst dort war es an der Tagesordnung, dass ich immer wieder aufgelöste Krankenpfleger am Bett hatte" — vor Stress und Überlastung. Er selbst habe mit seiner Familie durchgesetzt, dass diese einen Teil der Pflege übernehmen durfte. Das habe ihm indirekt das Leben gerettet, etwa bei schwerer Atemnot, als es sein Vater war, der ihm zur Seite stand.

Pflegeheimbetreiber Baumann kritisiert, dass die 1996 eingeführte Pflegeversicherung von 1% auf aktuell lediglich 2,35% erhöht wurde. "Wir sind in Deutschland an einem Punkt, dass wir an einem beginnenden Pflegenotstand sind, der sich zu einer Katastrophe entwickelt." Moll und Jorde widersprechen, die Katastrophe sei doch schon da.

Als Gegengewicht zeigt Plasberg das Video einer erfolgreichen Imagekampagne der Stadt Berlin, "Gepflegt in die Zukunft". Dank der mit berühmten Schauspieler und Sportlern gedrehten Clips konnte die Stadt im Kampagnenjahr 2014 14,2% mehr Interessenten für Pflegeberufe gewinnen. "Der Beruf macht Spaß, es gibt viele schöne Seiten, wie den Umgang mit den Menschen", wirbt Moll. "Mir hat es immer wieder was zurückgegeben." Mit einer Anekdote aus ihrer Anfangszeit, als sie einen Putzmann für einen dementen Patienten hielt, bringt sie die Runde zum Lachen.

Ein Problem ist die Gesetzeslage: Zwar fehlen über 50.000 Altenpfleger, aber zugleich sind fast 30.000 arbeitslos. Der Grund: Mindestens jede zweite Pflegekraft muss eine examinierte Fachkraft sein — eine Auflage, die nicht immer leicht einzuhalten sei, erklärt Heimbetreiber Baumann. Eine weitere Hürde sind niedrige Gehälter. Ein Azubi bekommt im ersten Lehrjahr 1040 Euro brutto, im dritten 1203 Euro brutto. Das Einstiegsgehalt liegt bei 2.635 Euro brutto. Das sei zwar zumindest am Anfang vergleichbar mit Handwerkern, sagt Plasberg, aber die Gehälter stiegen später nicht entsprechend an. Arbeit am Menschen müsse besser bezahlt werden, fordert Samuel Koch, besser als an Maschinen. Er regt an, dass eine Art Zivildienst wieder eingeführt wird.

Bei aller Kritik an den schlimmen Zuständen in der Pflege betont die Altenpflegerin Moll noch einmal das Positive. "Auch wenn man überlastet ist, man gibt immer 200 Prozent", sagt die angehende Politikerin, es gebe viele tolle Einrichtungen und tolle Pflegekräfte. "Aber zu wenig", ist der Tenor in der Runde, die ohne Politiker auskommt, aber mit einem konkreten Forderungskatalog an die Politik aus den in der Sendung gesammelten Anregungen endet.

Zitat des Abends:
"Die Deutschen kümmern sich eher um ihre Autos, das ist ihr höchstes Gut. Das ist Vollkasko-versichert, und noch die Felgen sind versichert. Aber auf die Gesundheit achten sie nicht so viel." (Samuel Koch, Schauspieler)

(sbl)
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