TV-Seelsorger Domian hört auf Die Nacht wird still

Köln · Jürgen Domian, zu Recht als Kummerkasten der Nation bezeichnet, hört auf: Am Freitag macht er nach 21 Jahren seine letzte Sendung, in der Wildfremde anonym ihr Herz ausschütten. Ein persönlicher Abschied.

Die 11 skurrilsten Anrufe bei Domian
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Foto: Screenshot: Youtube

Häufig ist er mit mir nach Hause gefahren - freitagnachts, ich kam aus der Kneipe oder von einer Party. Seine Stimme fand ich beruhigend, wenn ich durch die Dunkelheit fuhr. Und manchmal, wenn ich schon längst einen Parkplatz gefunden hatte, bin ich noch etwas im Auto sitzengeblieben. Um zu erfahren, was er Silke rät, die von ihrem Mann geschlagen wird. Oder wie er Anita tröstet, deren Mann am Vortag gestorben ist. Oder wie er Thomas ins Gewissen redet, der seine Freundin mit deren Schwester betrogen hat.

Jürgen Domian hat viele Geschichten gehört. Zwischen ein und zwei Uhr nachts war er 21 Jahre lang bei 1Live und im WDR-Fernsehen der Nachtfalke, der Zuhörer, der Kummerkasten der Nation. Manche Gespräche erinnerten nicht zu Unrecht an eine Beichte. Absolution konnten die Anrufer aber nicht erwarten. Der 58-Jährige war immer ehrlich, einfühlsam, sagte jedoch immer seine Meinung ohne Psycho-Blabla. Wenn er seine Gesprächspartner blöd fand, weil sie Mist gebaut hatten und larmoyant rumeierten, dann war das zu spüren. Wenn er Geschichten banal fand, konnte es passieren, dass er den Anrufer schnell aus der Leitung warf - um Zeit zu haben für Menschen, die ein Gespräch mit ihm nötiger brauchten.

Ausreden hat er nicht gelten lassen. Wenn einer einen Seitensprung beichtete und sagte, es sei einfach so passiert, wurde Domian schon mal barscher. "Einfach so" ging bei ihm nicht. Einer Sozialhilfe-Empfängerin Ende 20, die bekannte, sie habe keine Lust zu arbeiten und tue alles, damit sie keinen Job bekomme, drohte er, sie anzuzeigen, denn das sei "völlig daneben".

Aber bei denen, die weinten, die um Worte rangen, blieb er ruhig, und es gab Momente der Stille im Radio. Mitunter musste er sich räuspern, weil seine Stimme belegt war. Er hörte denen zu, die sonst niemanden hatten oder sich nicht trauten - mit ehrlichem Interesse, ohne Arroganz, mit steter Fürsorge.

Rund 25.000 Anrufer waren es seit dem Start der Sendung 1995. Darunter waren Neonazis, Hooligans, Fremdgeher, Hinterbliebene, Opfer von Gewalt und Betrug, Menschen mit gebrochenen Herzen. Und immer wieder ging es auch um Sex. Vieles habe ich durch die Sendung erst kennengelernt - zum Beispiel, dass sich Leute in Gegenstände verlieben können. Das hört sich ziemlich verrückt an und ist es vermutlich auch.

Doch für Domian, der selbst über seine Bisexualität oder seine frühere Bulimie-Erkrankung sprach, war vieles normal. Und deshalb konnte er auch ernst bleiben, wenn Objektsexuelle ihm von ihrer Beziehung mit einer Orgel erzählten oder ein Mann berichtete, er forme sich eine Frau aus 60 Kilo Hackfleisch. Domian-Fans neigen sicher zu einer Art Voyeurismus, wobei es nicht um die Lust am Schauen, sondern um die am Hören geht.

Für manche Gesprächspartner war Jürgen Domian, den alle nur Jürgen oder Domian nannten, nicht Tröster genug. "Meine Psychologin, das ist heute Nacht die Anne, ruft dich gleich noch mal an", sagte er zu den traurigsten und verzweifeltesten Anrufern. Er hatte immer einen Psychologen in der Hinterhand, der Selbsthilfegruppen empfahl, intime Dinge abseits der Mikrofone besprach und Menschen mit ihrer Tragik nicht allein ließ. Für die rund 60.000 Zuhörer gab es keinen Trost. Manche erzählte Geschichte rührte zu Tränen. Und raubte den Schlaflosen erst recht den Schlaf.

Am Freitag ist die letzte Sendung, dann ist die Leitung mit der Nummer 0800 - 2205050 tot. Die Fans hatten nach der Rücktritts-Ankündigung anderthalb Jahre Zeit, sich auf die neue Stille der Nacht vorzubereiten. Der Moderator will vom Nacht- zum Tagmenschen werden, reisen und soziale Kontakte pflegen. Ich hoffe, er wird künftig gut schlafen, wenn ich schlaflos oder allein im Auto bin.

(mso)
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