Özdemir zu Gast bei Maybrit Illner "Man kriegt die AfD nicht klein, indem man ihr hinterherläuft"

Der Redebedarf über das Ergebnis der Bundestagswahl scheint noch immer nicht gedeckt: Drei potenzielle Minister einer möglichen Jamaika-Koalition saßen bei Maybrit Illner - und sprachen dann doch wieder viel über die AfD. Und Frankreich.

Darum ging's

"Wenn vier sich streiten — mit Jamaika in die Zukunft?": Über "rote Linien für die Schwarzen, Grünen und Gelben" diskutierte Moderatorin Maybrit Illner mit fünf Gästen, und darüber, warum die Volksparteien bei der Bundestagswahl am Sonntag "ihr blaues Wunder erlebten".

Darum ging‘s wirklich

Eigentlich sollte die Jamaika-Koalition das Hauptthema sein. Doch statt vorwärts zu blicken, war die Sendung vielmehr eine Manöverkritik, eine Rückschau auf Fehler der Vergangenheit. Der Frage, wer nun für das Erstarken der AfD verantwortlich zu machen sei, wurde viel Raum gegeben. Der Ausblick, nämlich ob es bis Weihnachten eine funktionstüchtige Regierung geben wird, blieb, nicht zuletzt ob der hervortretenden inhaltlichen Differenzen, vage.

Gäste

  • Cem Özdemir, B‘90/Die Grünen, Bundesvorsitzender
  • Wolfgang Kubicki, FDP-Fraktionsvorsitzender in Schleswig-Holstein
  • Gesine Schwan, Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission
  • Joachim Herrmann, CSU, Innenminister von Bayern
  • Armin Laschet, CDU, NRW-Ministerpräsident
  • Andrea Römmele, Professorin an der Hertie School of Governance, Berlin, und Mitglied des Präsidiums der Deutschen Gesellschaft für Wahlforschung

Frontverlauf

Zum Auftakt der ZDF-Abendsendung bringt Moderatorin Maybrit Illner mit der Frage, ob Kanzlerin Angela Merkel oder Herausforderer Martin Schulz persönlich für das Wahldebakel verantwortlich zu machen seien, die Diskussion in Schwung. CDU-Vertreter Armin Laschet sagt, dass er seine Parteichefin nicht in der Verantwortung sehe. Vielmehr hätten die kleinen Parteien zugelegt. Die Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission, Gesine Schwan, geht mit ihrem Parteichef kritischer ins Gericht. Sie hätte sich gewünscht, dass dieser forscher vorgegangen wäre und klarer Stellung bezogen hätte, etwa zur Europapolitik.

Der FDP-Fraktionsvorsitzende in Schleswig-Holstein, Wolfgang Kubicki, formulierte es drastischer: "Wer sich Koalitionsverhandlungen nicht zutraut, hat es nicht verdient, Kanzler von Deutschland zu werden", sagte er über Schulz. "Die SPD hat Strukturfehler", legte er nach. "Sie kann nicht erklären, dass Deutschland ungerechter geworden ist, obwohl sie 15 Jahre mitregiert hat, in Nordrhein-Westfalen 50 Jahre. Und die Kinder sind alle arm."

Schwan kontert auf einen weiteren Vorwurf Kubickis, dass sich die SPD "vom Acker" mache, indem sie ihm vorwirft, die "staatstragende Funktion der Opposition", die in einer Demokratie eine wichtige Aufgabe habe, nicht zu verstehen. "Die Demokratie lebt vom Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition", betont Schwan.

Unterstützung bekommt sie vom Grünen-Bundesvorsitzenden Cem Özdemir. "Mir gefällt die Häme gegen die SPD nicht", sagt er. Sie sei schließlich nicht die erste Partei, die eine Wahl verloren habe. Er fordert, dass "demokratische Parteien angesichts des Erstarkens der AfD miteinander gesprächsfähig sein müssen". Seine Partei hätte sich, wäre sie an der Stelle der SPD gewesen, jedoch dafür entschieden, zunächst einmal an den Sondierungsgesprächen teilzunehmen. Die SPD hatte kurz nach Bekanntwerden der Ergebnisse verkündet, ins Oppositionslager zu wechseln.

Die Vertreter von CDU und CSU weisen die Verantwortlichkeit ihrer Parteien für den Erfolg der AfD zurück. Laschet sagt, dass die guten Ergebnisse der AfD nicht in Hochburgen der Union zu verzeichnen gewesen seien. "Das sind Enttäuschte, die von ganz links nach ganz rechts gegangen sind", ist sein Fazit.

Illner spricht Özdemir auf den Themenkomplex Flüchtlinge, Integration und Abschiebung an. Seien dies alles AfD-Themen oder bewege dies nicht alle Menschen in Deutschland? "Selbstverständlich bewegt es uns alle", sagt der Grünen-Politiker direkt. "Die Frage der Integration ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung für uns alle - dass die Leute so schnell wie möglich die Sprache lernen, eine Arbeit bekommen, in die Verfassung integriert werden."

Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann sagt, dass es die AfD geschafft hätte, eine bestimmte Stimmung zu verbreiten und Besorgnisse um Überfremdung und Sicherheit zu wecken. "Wir müssen diese Themen ernst nehmen." Sobald diese Probleme gelöst seien, sehe er die AfD-Wähler wieder ins "normale demokratische Spektrum" zurückkehren. Cem Özdemir regt an, dass die CSU das "S" in ihrem Parteinamen wieder ernster nehmen solle, etwa in Bezug auf die Rente, worauf Herrmann zustimmt.

Während Herrmann eine Verantwortung seiner Partei für den Wahlerfolg der AfD in Bayern zurückweist, sieht Gesine Schwan — die Moderatorin Illner nach einer Diskussion über den SPD-Herausforderer versehentlich mit "Frau Schulz" anspricht — sehr wohl einen Zusammenhang. Sie wirft der CSU vor, im Habitus und in der Wortwahl die Rechten auf ihre Seite ziehen zu wollen, was in der Vergangenheit immer zugunsten der Rechten ausgegangen sei.

"Das halte ich in jeder Hinsicht für wirklich groben Unfug", reagiert Herrmann ungehalten. Sie wiederum wirft ihm und den Männern auf der anderen Tischseite später vor, die Redezeit zu monopolisieren, sie fühle sich als "Zaungast". Özdemir versucht erneut, zu entschärfen: "Man kriegt die AfD nicht klein, indem man ihr hinterherläuft" sagt er und bekommt Applaus vom Publikum.

Im nächsten Themenblock geht die Runde der Frage nach, ob den Medien Mitschuld am Erfolg der AfD zu geben sei, wie es etwa der CSU-Vertreter Herrmann ARD und ZDF nach der Wahl vorgeworfen hatte. Andrea Römmele, Professorin an der Hertie School of Governance in Berlin und Mitglied des Präsidiums der Deutschen Gesellschaft für Wahlforschung, verneint dies. Sie sagt, dass die AfD stärker und aggressiver als andere Parteien in den sozialen Medien unterwegs gewesen sei. Früher habe es in Deutschland keinen "negativen Wahlkampf" gegeben — anders als dieses Mal. Wie schon Gesine Schwan zu Beginn der Diskussion bemängelt Römmele den inhaltsleeren Wahlkampf. Neuwahlen, wie sie zwischendurch angedroht wurden, halte sie für unwahrscheinlich. Diese seien für alle unkalkulierbar und könnten zu einer noch stärkeren AfD führen, "und das will eigentlich keiner".

"Wir haben hier drei potenzielle Minister sitzen, Cem Özdemir als Außenminister, Joachim Herrmann als Innenminister und Wolfgang Kubicki als Finanzminister", sagt Illner in dem Versuch, auf das eigentliche Thema der Sendung, die mögliche Jamaika-Koalition, überzuleiten, das insgesamt überraschend kurz abgehandelt wird. NRW-Ministerpräsident Laschet nennt die Bildung einer solchen Koalition eine schwierige Aufgabe. "Keiner wollte diese Koalition, aber der Wähler hat so entschieden." Danach verrennen sich die Debattierenden in vagen Wortgefechten zum Thema Zuwanderung, und ob es eine Obergrenze geben soll oder nicht.

Zum Abschluss steht die Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron im Mittelpunkt. FDP-Vize Wolfgang Kubicki nennt die Rede von Macron "sensationell", wehrt sich aber — wie Parteichef Christian Lindner — gegen Transferzahlungen, die Deutschland ihrer Ansicht nach benachteiligen würden. Auch CSU-Vertreter Herrmann zeigte sich skeptisch in Bezug auf Macrons finanzpolitische Vorstellungen.

Armin Laschet, CDU-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, sagte, die Idee eines europäischen Finanzministers, wie sie Macron aufbrachte, sei nicht neu, diese habe der langjährige Finanzminister Wolfgang Schäuble schon vor zehn Jahren vertreten. Wiederum nimmt Özdemir die Rolle des Vermittlers ein: "Deutschland kann kein Interesse daran haben, dass Macron scheitert, dann kommt Le Pen." Zum Schluss der Sendung werden französische Medienberichte eingespielt. Demnach soll Macron mit großer Sorge sehen, dass die FDP in Deutschland mitregiert. Der Zeitung "Le Monde" soll er gesagt haben: "Wenn Angela Merkel sich mit den Liberalen verbündet, bin ich tot."

Zitat des Abends:

"Deutschland kann kein Interesse daran haben, dass Macron scheitert, dann kommt Le Pen." (Cem Özdemir, B‘90/Die Grünen, Bundesvorsitzender seit 2008)

(sbl)
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