Jahresrückblick bei "Maybrit Illner" Gabriel gesteht Fehler in Flüchtlingspolitik

Düsseldorf · Ausdrucksstark und schlagfertig dominierten der Kabarettist Serdar Somuncu und der geschäftsführende Bundesaußenminister Gabriel den TV-Talk bei Moderatorin Maybrit Illner über das turbulente Jahr 2017.

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Foto: dpa/Antonis Nikolopoulos

Darum ging‘s

Beim Wechsel vom einen ins andere Jahr übernimmt man üblicherweise einen Teil der Dinge aus dem alten Jahr, andere Dinge kommen neu hinzu. Im Jahr 2017 ging jedoch vieles, was man als stabil und sicher empfand, verloren, oder geriet zumindest ins Wanken. "Worauf können wir für die Zukunft bauen?", wollte Moderatorin Maybrit Illner von Journalisten, Politikern und einem Kabarettisten wissen.

Darum ging's wirklich

Wie so oft ging es um die Flüchtlingsfrage, die Türkei und die AfD. Aber auch die Frage, wann Deutschland wieder eine Regierung haben wird und wie diese aussehen könnte, wurde teils kontrovers diskutiert.

Die Gäste:

  • Edmund Stoiber, Ehrenvorsitzender der CSU, ehemaliger Ministerpräsident von Bayern
  • Serdar Somuncu, Kabarettist und Schriftsteller
  • Peter Frey, ZDF-Chefredakteur
  • Melinda Crane, US-amerikanische Journalistin, Politologin
  • Sigmar Gabriel, geschäftsführender Bundesaußenminister, bis März 2017 Parteivorsitzender der SPD

Der Frontverlauf:

Zu Beginn der Sendung ist der frühere bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber noch überraschend wortkarg, vielleicht, weil er ein wenig heiser ist und daher auch ungewöhnlich leise spricht. Später wird er sich, wie die Runde süffisant feststellt, doch noch wie so oft in Rage reden.

Aber auch nur, um die Problemlage in Deutschland zu schildern, die alle längst kennen. "Er redet sich in einen Rausch", sagt der Kabarettist und Schriftsteller Serdar Somuncu, als Stoiber einmal mehr loslegt. "Ist doch gut", sagt Somuncu und klopft Stoiber beruhigend auf die Schulter. Beide lachen.

Somuncu ist einer der eloquentesten und pointiertesten Teilnehmer an der Debatte des Abends. Er sehe die SPD von der Zwangsehe in die offene Zweierbeziehung wechseln, sagt der Kabarettist im Hinblick auf die laufenden Sondierungsgespräche der Union mit der SPD. Wie sein Vorredner Stoiber finde er, dass sich die SPD erneuern müsse, wieder Volkspartei werden müsse.

In den aktuellen Verhandlungen könne die SPD durchaus starke Forderungen stellen, frei nach dem Motto: "Wir gehen in die große Koalition, aber nur ohne Kanzlerin Merkel". Sie solle nur nicht dem Vorbild der FDP folgen, "sich erst koalitionswillig zeigen, und dann nach vier Wochen feststellen, dass man die Parteiprogramme der anderen nicht gelesen hat", so der Kabarettist.

"Koalition des Misstrauens"

Mit der Einladung der amerikanischen Journalistin und Politologin Melinda Crane hatte Moderatorin Maybrit Illner wohl versucht, die Außenperspektive stärker in die Diskussion einzubinden. Leider bindet sie Crane selbst, die als politische Korrespondentin für die "Deutsche Welle" tätig ist, zu wenig ein. Crane beurteilt Deutschland zwar insgesamt als stabil, bemängelt jedoch einen Mangel an der Fähigkeit, die Initiative zu ergreifen.

Der Intendant des ZDF, Peter Frey, bringt ein wenig positiven Wind in die Runde. Er könne nicht von einer Krise sprechen. So sei zum Beispiel die Wahl von Emmanuel Macron in Frankreich, "ein junger Mann, der sich gegen eine rechtspopulistische Partei durchgesetzt hat", eines der positivsten Ereignisse des Jahres.

Was die Regierungsbildung angeht, ist er weniger optimistisch. "Es zeichnet sich ab, dass es eine Koalition des Misstrauens wird", mit geschwächtem Spitzenpersonal. "Es ist immer noch besser keine Regierung zu haben als einen Präsidenten wie die USA", kommentiert Somuncu schlagfertig, sehr zur Erheiterung der Studiogäste.

Gelassener Gabriel

Erst nach 20 Minuten des Wartens und Zuhörens wird der langjährige SPD-Parteichef Sigmar Gabriel von Moderatorin Maybrit Illner zur Wortmeldung aufgefordert — obwohl zuvor ständig von der SPD die Rede war. Gabriel nimmt es sichtlich gelassen, wie er überhaupt an diesem Abend wirkt, was auch Somuncu auffällt: "Sie haben Ihrer Partei viel zugemutet, aber auch Ihre Partei hat Ihnen viel zugemutet. Aber seit Sie Außenminister sind, haben Sie eine viel gelassenere Ausstrahlung", sagt der Kabarettist. "Augen auf bei der Berufswahl", sagt Gabriel grinsend, und alle lachen.

Er und Somuncu liefern sich den interessantesten Austausch des Abends, als das Gespräch auf die Türkei und Präsident Erdogan kommt. "Sprechen Sie ihn auf Deniz Yücel an?", will Somuncu von Gabriel wissen. Yücel ist seit 2015 Türkei-Korrespondent der WeltN24-Gruppe und seit Februar wegen fadenscheiniger Vorwürfe in der Türkei in Einzelhaft.

Politiker wie Prominente haben — bisher vergebens — seine umgehende Freilassung gefordert. "Immer, es gibt kein Gespräch mit der türkischen Regierung, bei der dieser Name - und übrigens auch eine Reihe anderer - nicht fällt", antwortet Gabriel auf Somuncus Frage. "Aber das beeindruckt die türkische Regierung nicht im Geringsten."

"Weil Sie der Regierung Geld zahlen, um sich die Flüchtlingsfrage vom Hals zu halten", legt Somuncu nach. Ruhig aber bestimmt weist Gabriel den Vorwurf zurück. Die deutsche Regierung habe etwa die Wirtschaftshilfe für die Türkei reduziert und sei auf einige Anfragen nicht eingegangen. Aber es gehe nicht nur um Werte, sondern auch um Interessen, etwa wirtschaftlicher Art, sagt Gabriel später, das müsse man auch eingestehen. Deutschland sei eines der wenigen Länder, das Menschenrechtsfragen thematisiere. "Müsst Ihr eigentlich immer schlechte Stimmung machen?", würden andere Länder hinter vorgehaltener Hand sagen.

Keine Hoffnung für die Zukunft

"Wir haben keine aufgeklärte Debatte darüber geführt", sagt Gabriel über die Flüchtlingsfrage, die einmal mehr Gesprächsstoff liefert. Sein Duzpolitikerkollege Stoiber gibt ihm Recht, "alle, auch die Medien nicht" — ein Vorwurf, den ZDF-Intendant Frey nicht so auf sich sitzen lassen will. Vergleichsweise einig scheint sich die Runde darüber zu sein, dass nicht die Flüchtlingsfrage der Rechtsaußen-Partei AfD geholfen hat, Stimmen zu gewinnen, sondern eine Mischung aus mehreren Faktoren.

Gabriel sieht im Erstarken der Partei den Ausdruck der Tatsache, dass es Menschen gibt, die sich im postmodernen Zeitalter abgehängt fühlen und mit Elitediskursen nicht klarkommen. Crane sieht Parallelen zu den Anhängern von Trump in den USA. So sei etwa die Lage im Bundesstaat Iowa vergleichbar mit der in Mecklenburg-Vorpommern, mit Problemen wie Entvölkerung, Agrarkrise und schwindenden Arbeitsplätzen.

"Die Leute haben das Gefühl, dass sie keine Hoffnung für die Zukunft haben, das sind klassische SPD-Themen!", sagt Crane zu Gabriel. "Wir haben es nicht geschafft, diesen Menschen zu zeigen, dass wir beides können. Sie nicht zu vergessen, und denen, die reinkommen, zu helfen", betreibt der langjährige SPD-Chef Manöverkritik.

Zum Abschluss fragt Moderatorin Illner nach den Prognosen für 2018: Wie wird die Regierung zur gleichen Zeit in einem Jahr aussehen? Somuncu hat schnell eine Antwort parat: "Mit mir als Kanzler und mit einem ähnlich inhaltslosen Programm wie die SPD." Die Journalistin Crane, ZDF-Intendant Frey und Edmund Stoiber erwarten eine große Koalition mit Angela Merkel an der Spitze. Gabriel hat eine andere Idee und lächelt Somuncu an: "Wenn er Kanzler wird, werde ich Kabarettist!" Lachend schütteln sich die beiden die Hände.

(sbl)
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