TV-Talk mit Anne Will "Politiker wollen keine unbequemen Fässer aufmachen"

Fehlt die Zukunftsvision und warum schlägt Angela Merkel im Osten so viel Wut entgegen? Anne Wills Gäste geben sich eine Woche vor der Wahl analytisch.

Darum ging's

"Zwischen Wohlfühlwahlkampf und Wutbürgern — Verstehen die Politiker ihre Wähler noch?" fragt Anne Will ihre Gäste eine Woche vor der Bundestagswahl. Der Bundestagswahlkampf werde einerseits als zu harmonisch und inhaltsleer kritisiert, andererseits schlägt der Kanzlerin, insbesondere im Osten des Landes, Wut und Ablehnung entgegen. Die Moderatorin will herausfinden, ob die Politiker die Bürger nicht mehr erreichen.

Darum ging's wirklich

Zwei nicht mehr aktive Politiker und drei Akademiker diskutieren, ob im Wahlkampf wirklich Inhalte fehlen und warum es diesen Anschein hat. Sie sprechen außerdem darüber, ob die Politiker der Mitte zu bequem geworden sind und warum Angela Merkel im Osten oft derart heftige Wut entgegenschlägt.

Die Gäste

  • Theo Waigel, ehemaliger Bundesfinanzminister, CSU
  • Gesine Schwan, Politologin, SPD,
  • Thea Dorn, Philosophin und Publizistin
  • Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft
  • Frank Richter, Theologe, ehemaliger Leiter der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung

Frontverauf

Anne Will fragt ihre Runde zunächst, warum über 40 Prozent der Wähler sich wohl noch immer nicht entschieden hätten, wen sie am nächsten Sonntag wählen. Ihre Gäste mutmaßen, das liege an einem "von Stimmung und kurzwährenden 'Hypes' bestimmten Wahlkampf" (Pörksen), an zu viel Meinungsumfragen (Waigel) und der Tendenzen zu Mutlosigkeit (Schwan) und fehlenden Visionen.

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen ist der Ansicht, in der politischen Mitte werde nicht ernsthaft genug um Inhalte gerungen. "Seit Trumps Sieg gebe es eine Art Polarisierungsangst. Eine programmatische, nicht populistische, Polarisierung sei aber durchaus nötig.

Niemand will die "riesige Revolution in der Arbeitswelt" bemerken

Thea Dorn findet, es fehle angesichts einer Arbeitswelt, die immer mehr automatisiert und digitalisiert werde, vor allem eine zukunftsorientierte Diskussion um Arbeit. "Die CDU will Vollbeschäftigung — das hätte für die SPD doch eine Steilvorlage sein müssen", sagt sie. Anscheinend merke in der einstigen Partei der Arbeiter aber niemand, "dass wir mitten in einer riesigen Revolution der Arbeitswelt sind". Ihr komme die SPD da "etwas denkfaul" vor. Keiner habe offenbar Lust, unbequeme Fässer aufzumachen.

Selbst Gesine Schwan findet, die SPD hätte etwas mutiger ein können, meint aber auch, derlei Programm-Entscheidungen könnten riskant sein und sähen aus der Perspektive eines Wahlleiters etwas anders aus. Sie sieht überdies durchaus unterschiedliche Politikentwürfe: Der einen Partei gehe es vor allem um Solidarität, der anderen um Wettbewerbsfähigkeit. Das hört Theo Waigel nicht gern, für ihn standen Solidarität und Hilfe andere Ländern wie Portugal, Spanien, Zypern, Griechenland in den vergangenen Jahren durchaus im Mittelpunkt. Viele Länder hätten sich vor allem dank deutscher Hilfe "wieder berappelt."

Warum ist der Osten wütend auf Angela Merkel?

Anne Will möchte schließlich herausfinden, warum es der aus Ostdeutschland stammenden Kanzlerin nicht gelingt, dort besser bewertet zu werden. Warum würden ihr sogar zuweilen Wut und Hass entgegenschlagen? Schwan, die lange in Frankfurt/Oder gearbeitet hat, gibt zu bedenken, Merkel habe nie besonders herausgestrichen, dass sie aus Ostdeutschland stamme. Dass Merkel es als Frau aus dem Osten im vereinten Land an die Spitze geschafft habe, werde ihr nicht als Plus angerechnet. Ostdeutsche hätten gegenüber jenen aus dem Westen immer "grundlegend unter Verdacht gestanden, politisch nicht sauber zu sein". Oft seien sie auch verdächtigt worden, nicht so gute Arbeit zu leisten. An dieser Stimmung hätte auch Merkel nichts verändert.

Weshalb Angela Merkel vor allem im Osten Wut entgegenschlägt, versucht schließlich der Sachse und Theologe Frank Richter zu erklären. Richter trat kürzlich nach 25 Jahren Mitgliedschaft aus der CDU aus. Als Gründe dafür nennt er, dass er die Waffenlieferungen an Saudi-Arabien nicht mehr vertreten könne und dass er Meinungsfreiheit in den Reaktionen auf sein Buch "Unter Sachsen" vermisse.

Wenn man herausfinden wolle, warum im Osten mehr Wut herrsche — das Wort Hass erscheint Richter zu stark — müsse man viele Faktoren addieren. "Der Osten unterscheidet sich nicht in der Substanz vom Westen, aber in der Addition verschiedener sozialer Probleme", analysiert Richter, der sich selbst in der DDR als "Wutbürger" sah.

Als Waigel nachbohrt, weshalb es im Osten Deutschlands eine größere, verfestigte Szene Rechtsradikaler zu geben scheine, gibt Richter zu bedenken, das könne unter anderem daran liegen, dass der Osten mehr Erfahrung mit Diktaturen als mit Demokratie habe. Außerdem erinnert er an die Zeit nach der Wende und spricht von einer "überschichteten Gesellschaft" in Ostdeutschland — damit zitiert er die Studie "Wer beherrscht den Osten" der Uni Leipzig. Eine Folge dieser Entwicklung sei gewesen, dass im Osten viele Chefetagen mit Westdeutschen besetzt worden seien. Ostdeutsche, die währenddessen in den Westen gegangen seien, seien jedoch dort selten in den Chefpositionen gelandet. Dadurch hätten sich die Menschen in Ostdeutschland benachteiligt gefühlt.

(juju)
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