Leiharbeit undercover Wallraffs Enkel ganz unten

Düsseldorf (RPO). Auf dem Boden rutschen und Erdbeeren pflücken, bis die Beine bluten. Das ist das schmerzhafte Ende einer Undercover-Reportage in der ARD, die den deprimierenden Alltag von Leiharbeitern schildert.

Leiharbeit undercover: Eine niederschmetternde Doku
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Leiharbeit undercover: Eine niederschmetternde Doku

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Nach dem Bestseller "Abgezockt und totgepflegt" über die Zustände in der deutschen Pflege hat sich Markus Breitscheidel diesmal in das Räderwerk der Zeitarbeit begeben. Der WDR hat eine 45-minütige Doku daraus gemacht. Wie seinerzeit Günter Wallraff in der Stahlindustrie ("Ganz unten") lernt Breitscheidel die düstersten Winkel eines Gewerbes kennen, das ausnutzt und diskriminiert. Sein Buch zur Doku soll den Namen "Arm durch Arbeit" tragen.

Die Wirtschaft feiert Leiharbeit als Mittel zur Flexibilisierung des Arbeitsmarkts. In der Theorie mag das stimmen. Wie niederschmetternd die Praxis im blindwütigen Kapitalismus aussieht, brachte selbst den Vater des Modells zum Kopfschütteln: "Wenn die Wahrheit so ist, ist sie völlig unakzeptabel", räumte der ehemalige SPD-Minister Wolfgang Clement nach der Reportage ein.

Mit versteckter Kamera

Unter dem Namen Matthias P. schlich sich Breitscheidel in die Großindustrie ein. Teilweise hielt er seine Erfahrungen selbst mit verdeckter Kamera fest. Einem Videotagebuch vertraute er seine Gefühle an. Den Rest steuerte WDR-Autorin Julia Friedrichs bei, die ihn über ein Jahr begleitete.

Bei Opel in Rüsselsheim begegnet Zeitarbeiter Matthias P. im September 2007 den Machenschaften zum ersten Mal. Versprochen wurde ihm eine Vollzeitstelle, aber schon bald ist klar: Die Leihfirma setzt ihn nur stundenweise ein. Tagelang sitzt er in der Monteurspension und wartet, dass er zur Schicht darf. Denn nur dann wird er bezahlt.

Ob Frau, ob Mann: Sie müssen sich im Gegensatz zu den Festangestellten vor aller Augen in der Werkshalle in einer Ecke umziehen, fühlen sich erniedrigt, werden gegängelt, müssen das Doppelte in der Werkskantine zahlen und erhalten unter dem Strich einen Hungerlohn. Matthias P. wird zunehmend depressiv, hält es nicht lange bei Opel aus.

"Inszenierte Sozialbetroffenheit"

Opels Europa-Sprecher Frank Klaas rechtfertigt die Praxis, spricht von einer "inszenierten Sozialbetroffenheit." Für die Zustände sei nicht der Autobauer, sondern die Leiharbeitsfirma zuständig. Dass Opel-Azubis nicht übernommen, sondern als Zeitarbeiter Bedingungen ins Unternehmen zurückgeholt werden, lobt der Opel-Sprecher ausdrücklich.

Am Tag nach der Sekundung wendet sich Opel direkt an die Medien und stellt einen Sachverhalt anders dar, als er in der Doku vermittelt wurde: "Der Journalist Breitscheidel hatte zu keinem Zeitpunkt den Status eines Leiharbeiters bei der Adam Opel GmbH", erklärte ein Sprecher am Dienstag. Vielmehr sei er von einer Zeitarbeitsfirma an einen Opel-Lieferanten ausgeliehen worden. Dieser Lieferant verrichte einige seiner Tätigkeiten innerhalb des Opel-Werksgeländes auf einer ihm besonders zugewiesenen Fläche. So erkläre sich der Unterschied zu firmeneigenen Zeitarbeitern, zum Beispiel auch zu den nicht übernommenen Azubis, die voll in die Belegschaft integriert seien.

"Der Zulieferer setzt in der angemieteten Halle seinerseits einen Dienstleister ein, der die Scheinwerfer prüft", schildert Opel den Ablauf. Sollten dort Abweichungen übersehen werden, greife anschließend die werksinterne Qualitätskontrolle, teilt der Autobauer mit.

Bei Schering in Berlin durchlebt Matthias P. das Zwei-Klassen-System in voller Schärfe. Obwohl er diesmal voll in den Dienstplan von Früh-, Nacht- und Spätschicht zur Produktion von Anti-Baby-Pillen integriert ist, erhält er nach den ersten drei Wochen 529,31 Euro netto, von dem ihm die betriebseigene Leiharbeitsfirma auch noch 130,50 Euro streitig macht. Matthias P. fühlt sich abgezockt.

Aus Angst um seinen Job macht kein Leiharbeiter den Mund auf. Matthias P.: "Dann bist Du sofort raus." Unter den Festangestellten entstehe ein Klima der Angst und Sorge um ihren Arbeitsplatz, beobachtet er. Kein Wunder: Von anfangs sechs Angestellten in seinem Arbeitsbereich bei Schering seien es später nur noch drei gewesen. Die Unterscheidung fällt leicht: Nur die Festangestellten tragen Namen auf ihren Arbeitskitteln.

Tiefste Abgründe als Erntehelfer

Matthias P. versucht es bei einem Bauern als Erntehelfer und erlebt beim Erdbeerenpflücken im Hochsommer die tiefsten Abgründe des Systems. Während die Helfer unter brütender Sonne auf dem Boden rutschen, darf die ARD die Kamera diesmal voll draufhalten. Für 25 Cent pro Schälchen oder maximal 3,25 Euro brutto in der Stunde ruinieren sich die Helfer den Rücken, die Knie und harren in glühender Hitze bis zu elfeinhalb Stunden aus. Dabei hatte der Bauer anfangs von maximal drei, vier Stunden gesprochen. Unverhohlen gibt der Landwirt zu: "Von unserem Lohn kann man keine Familie ernähren." Das sei eigentlich keine Arbeit, sondern mehr eine "Hilfe". Das Arbeitsamt muss den Lohn aufstocken.

Als Markus Breitscheidel über seine Erfahrungen vorige Woche bei Frank Plasberg in "Hart aber fair" berichtete, erschütterte es selbst hartgesottene Arbeitnehmer-Vertreter bis ins Mark. Alle forderten unisono gleiche Bezahlung. Doch was nutzt es, wenn nun Tausende Leiharbeiter als erste der Jobkrise zum Opfer fallen?

Ins Feld gemacht

Den bewegendsten Moment erlebt ARD-Autorin Julia Friedrichs, als beim Erdbeerpflücken plötzlich ein Dixieklo am Wegesrand steht. Die Anwesenheit des Fernsehens macht es möglich. Die Arbeiter empfinden es wie ein Geschenk. Vorher haben sie ins Feld gemacht.

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