Bettina Böttinger "Warum tun Menschen, was sie tun?"

Mit "B.sucht" hat die Moderatorin Bettina Böttinger ein Format entwickelt, das Menschen auf ungewöhnliche Art zum Sprechen bringt.

Mit "B.sucht" hat die Moderatorin Bettina Böttinger ein Format entwickelt, das Menschen auf ungewöhnliche Art zum Sprechen bringt.

Die meisten Zuschauer kennen Sie seit fast 20 Jahren als Talkerin. Auch in "B.sucht" sieht man Sie im Gespräch mit Menschen. Worin unterscheidet sich dieses Format?

Böttinger Ich gehe in die Lebenswirklichkeit der Menschen tatsächlich rein, und das sind sehr besondere Lebenssituationen. Die meisten Zuschauer werden in ihrem Leben noch nicht im Knast gewesen sein. Sie gehen mit mir als Reporterin in eine Zelle, wenn ich mit einem Lebenslänglichen, der seit 36 Jahren hinter Gittern sitzt, über seine Situation spreche, und der dann bei der Frage anfängt zu weinen, wie es für ihn ist, möglicherweise im Knast zu sterben. Das ist eine Grenzsituation, die es in einer Talkshow nicht gibt.

Heute in der ersten Folge treffen Sie transidente Menschen, früher hätte man Transsexuelle gesagt. Was haben Sie erfahren, das der Zuschauer nicht aus Talkshows kennt?

Böttinger In den Gesprächen ist für mich als Reporterin herausgekommen: Es geht nicht um Kleidung, Freiheit, Rollenverhalten, männlich oder weiblich, sondern um die Frage des Überlebens. Bei allen Dreien war das so. Mit einer gewissen journalistischen Distanz sind Sie plötzlich in deren Welt und begreifen etwas. So authentisch, so unmittelbar und persönlich kann ich das in einer Talk-Situation im Studio nicht vermitteln.

Wie haben Sie diese teils sehr intimen Gesprächssituationen hergestellt?

Böttinger Die einzelnen Folgen dauern nur 30 Minuten, aber dahinter steckt sehr viel Arbeit. Allein um das Vertrauen der Beteiligten zu gewinnen, habe ich Zeit gebraucht. Ich muss aber zugeben, dass der Name Bettina Böttinger und das Label "WDR" auch Vertrauen schaffen.

Sie sprechen mit einem autistischen schwerbehinderten jungen Mann, dem vermutlich egal war, dass da Bettina Böttinger vor der Tür stand.

Böttinger Das war nicht einfach, bei Julius bin ich erst mal ins Leere gelaufen. Ich habe einen Tag mit ihm in dem therapeutischen Haus im Sauerland verbracht, in dem er lebt, und einen Tag in seinem Elternhaus in Münster. Zum Schluss saß er da scheinbar abwesend auf der Treppe und sagte dann "Danke, Bettina". Das hat mich sehr berührt.

Als journalistische Erzählform wirkt "B.sucht" extrem eindringlich. Ist das die Zukunft öffentlich-rechtlicher Reportage-Formate?

Böttinger Das Fernsehen braucht nicht nur Unterhaltung. Gerade öffentlich-rechtliches Fernsehen hat die Aufgabe, Lebenswirklichkeiten zu zeigen: Was ist das für eine Gesellschaft, in der wir leben? Ich kann nicht alles kennen, aber ich kann durch Fernsehen sehr viel kennenlernen — das auf eine Weise, die fair, solidarisch, menschlich ist und die Verständnis schafft.

Was fasziniert Sie daran?

Böttinger Ich habe, wie auch im "Kölner Treff", immer die gleiche Grundfrage: Warum tun Menschen das, was sie tun? Warum schreibt ein Walter Kohl das zweite Buch über seine Familiengeschichte? Warum macht er das öffentlich? Warum steht jemand 60 Stunden in einer nicht klimatisierten Backstube?

Vor zwei Wochen haben Sie den SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück auf dem Parteikonvent gefragt: "Warum tun Sie es?". Hatten Sie mit Tränen als Antwort gerechnet?

Böttinger Nein, natürlich nicht. Ich wusste in dieser Situation auch nicht, dass das von Phoenix live im Fernsehen übertragen wird. Als Gertrud Steinbrück dann sehr sachlich schilderte, wie mit ihrem Mann umgegangen wird, verlor er für einen Moment die Fassung. Vielleicht war das ein Lehrstück darüber, wie rücksichtslos wir manchmal mit Menschen umgehen. Gerechnet hat damit niemand.

ULLI TÜCKMANTEL FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort