Duisburg "Moby Dick" im Rhein: gejagt und geliebt

Duisburg · Heute vor 50 Jahren wurde ein weißer Wal in Duisburg gesichtet. Das verirrte Säugetier hielt nicht nur Zoodirektor Wolfgang Gewalt in Atem. Tausende wollten den Beluga einmal selbst sehen.

Plötzlich schoss das Wasser zehn Meter hoch in die Luft. Bernd Albrecht und Willi Dethlevs konnten gerade noch einen weißen Rücken sehen, dann verschwand das Tier im trüben Wasser des Flusses. Die Rheinschiffer waren sich sofort sicher: "Das war ein Wal!" Sie alarmierten die Wasserschutzpolizei in Duisburg. Dort wollten die Beamten den Männern zunächst nicht glauben. Die Meldung sorgte für Gelächter und brachte die Vermutung auf, dass die Rheinschiffer alkoholisiert sein müssen. Doch die Polizisten entdeckten kurz darauf selbst den vier bis fünf Meter langen und 35 Zentner (1750 Kilogramm) schweren Wal im Wasser. Die Sensation war perfekt.

Heute vor 50 Jahren, am 18. Mai 1966, verirrte sich der Beluga im Rhein. Gesichtet wurde er bei Stromkilometer 778,5 in Höhe Duisburg-Neukamp. Dort hielt er sich einige Tage auf, schwamm anschließend wieder meerwärts, stoppte jedoch vor der eigens für ihn geöffneten Kornwerdersand Schleuse zum Meer und schwamm zurück rheinaufwärts. Vier Wochen hielt er sich im Rhein auf - machte Abstecher nach Köln und Bonn - und schwamm Mitte Juni zurück in die Nordsee. Eigentlich sind die Säugetiere in arktischen und subarktischen Gewässern beheimatet.

Heutzutage würde man wohl von einem "Hype" sprechen, den der weiße Wal damals auslöste. Jeder wollte "Moby Dick" - so wurde er nach dem gleichnamigen Roman von Herman Melville getauft - einmal selbst sehen. Zehntausende machten sich mit Fotoapparaten auf die Wal-Suche. Dazu gesellten sich zahlreiche Journalisten.

Rheinschiffer Werner Proff erinnert sich noch gut an "Moby Dick". "War ein schöner Kerl, enorm groß", sagt Proff. Er habe nicht lange suchen müssen, denn der Wal sei meist in Begleitung von Wasserschutzpolizei und etlichen Sportbooten gewesen, erinnert sich der heute 77-Jährige. Er steuerte die "Bismarck", ein Radschiff der Köln-Düsseldorfer Rheinschifffahrt. Einmal sei der Wal ganz nah gewesen. Auch die Passagiere wollten den Wal unbedingt sehen. Als er auftauchte, rannten alle zu der Schiffsseite. "Das Schiff hat Schlagseite bekommen, so dass wir nicht mehr fahren konnten. Alles wollte den weißen Wal sehen", erinnert sich Proff. Porzellan und Gläser polterten aus den Schränken. "Da haben Berge von Glas und Scherben gelegen."

Auch Rudi Hell traf bei Ginderich auf das Säugetier. Der heute 80-Jährige und seine Kollegen haben damals Hubschrauber über dem Fluss kreisen sehen. "Wir dachten, da ist etwas passiert und wollten nachsehen." Also fuhren sie mit dem Schlepper auf den Rhein und trafen auf "Moby Dick". "Er schwamm nur wenige Meter neben uns, ich hätte ihm fast den Rücken schrubben können." Hin und wieder habe der Beluga eine Wasserfontäne hochgeblasen. Angst hatte Hell, der heute auch als letzter Aalfischer Nordrhein-Westfalens bekannt ist, vor dem großen Säugetier nicht.

Doch nicht allen reichte es, den Wal nur aus der Ferne zu betrachten. Duisburgs Zoodirektor Wolfgang Gewalt - damals zwei Monate im Amt - wollte "Moby Dick" als Attraktion für sein Delfinarium. Also jagte er den Riesen-Säuger mit Narkosewaffe und Netz bewaffnet - anfangs sogar mit zusammengeknüpften Tennisnetzen. Einige Male traf der Zoowärter ohne Walfang-Erfahrung das Tier zwar mit einem Betäubungsmittel, doch müde wurde es nicht. Gewalt engagierte sogar einen Landesmeister im Bogenschießen, um dem Wal eine Boje in die Fettschicht zu schießen. Auch ein Delfin-Spezialist aus der Schweiz versuchte, den Beluga mit einer Fangmethode aus Zaunpfählen zu fangen. Alle Versuche scheiterten jedoch.

In der Zwischenzeit wurden an den Stammtischen bereits Wetten abgeschlossen, ob der Zoodirektor "Moby Dick" fängt oder nicht. Die Bevölkerung freute sich über den Wal im Rhein. Tierschützer protestierten gegen die Jagd auf ihn. Einige mieteten sich ein Luftschiff und warf Orangen vom Himmel, um die Jagd zu behindern. "Moby Dick" schwamm den Rhein indessen weiter auf und ab - sogar bis nach Bonn. So hielt er nicht nur die Bevölkerung und Zoologen auf Trab, sondern spielte auch bei einer Pressekonferenz im Bonner Bundeshaus die Hauptrolle. Dort interessierte sich keiner der Anwesenden mehr für die politischen Inhalte, als der Wal der damaligen Hauptstadt einen Besuch abstattete: Alle Anwesenden stürzten nach draußen.

Mittlerweile hatte "Moby Dick" sein strahlendes Weiß durch das trübe Wasser verloren. Die Wasserqualität war zu dieser Zeit nicht so gut wie heute. Durch die Hetzjagd sei er außerdem sehr abgemagert gewesen, beschrieben Bürger die Verfassung des Tieres. Die Sekretärinnen im Bundeshaus sahen das wohl genauso: Sie warfen Butterbrote in den Rhein.

Am 11. Juni wurde es dem Riesen dann wohl doch zu bunt, der Wal schwamm zurück in die Nordsee. Das letzte Mal gesichtet wurde er am 16. Juni in Holland. Die Niederländer kritisierten den Walfang in Deutschland, beschrieben die Methoden als "barbarisch". Bis heute weiß niemand, warum das Riesentier einen Ausflug in das schmutzige Süßwasser unternommen hat. Einen solchen Fall hatte es nie wieder gegeben. Der "Moby Dick" im Rhein ist und bleibt wohl einzigartig.

(RP)
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