Fotografie NRW: Den Ruinen verfallen

Düsseldorf · Leerstehende Industriehallen, abrissreife Gebäude oder Geisterbüros. Verlassene Orte faszinieren viele Menschen. Sie dokumentieren mit Fotos, was von florierenden Unternehmen übrig blieb oder wie sich die Natur Terrain zurückerobert.

Rotten Places – Verlassene Orte
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Rotten Places – Verlassene Orte

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Foto: HOLGER - VERLASSENE ORTE NRW/FACEBOOK

Für viele sind verlassene Orte nur ein Schandfleck oder eine Bruchbude, aber wenn Holger (33) "drin" ist, beginnt für ihn das Kopfkino. Dann denkt er darüber nach, wer in der alten Maschinenhalle früher wohl gearbeitet hat oder warum die Firma schließen musste. Holger aus Lüdinghausen ist in seiner Freizeit ein "Urban Explorer" (wörtlich übersetzt: ein Entdecker in der Stadt). Er und seine Kollegen erkunden Industrieruinen, machen dabei Fotos und teilen sie im Internet.

Urban Exploring findet immer mehr Fans: Mehr als 43.000 Menschen haben in nur einem halben Jahr auf der Facebook-Seite "Verlassene Orte NRW", bei der auch Holger und sein Kollege Kevin aus Krefeld mitmachen, den Gefällt-mir-Button gedrückt. Sie kommentieren Fotos, diskutieren deren Qualität oder erinnern sich an Orte, die das Bild ihrer Heimatstadt mitgeprägt haben und die nun dem Verfall preisgegeben sind.

Leerstehende Industriehallen sind Orte der Stille und der Zivilisationsflucht. Wer dort ist, genießt die Atmosphäre, hört die Regentropfen fallen und geht auf Zeitreise. Jeder wird ein wenig zum Detektiv, erforscht die Geschichte der Ruine und macht sich auf Spurensuche. Oft finden sich Motive von morbidem Charme, manche Szenerie erinnert an Spukschlösser.

Die verlassenen Orte bieten einer Generation, für die ein Arbeitsplatz häufig nur noch ein leistungsstarkes Notebook samt stabiler Internetverbindung ist, Platz für Gedankenspiele: Wie hat es früher ausgesehen, welche Menschen haben dort gearbeitet, welchen Krach haben die Maschinen gemacht? Das alles ist nur schwer vorstellbar, wenn die Werkzeuge von zentimeterweise Staub — oder heißt es dann Dreck? — bedeckt sind, in der Mitte einer großen Halle schon ein Baum wächst und die Wände in allen Schattierungen der Farbe Grün leuchten.

Auch für andere Bundesländer gibt es Facebook-Gruppen, die "Lost places" dokumentieren und ebenfalls Tausende Fans gefunden haben. Für Holger hat sich in den Ruinen-Fotos sogar schon eine eigene Kunstform entwickelt. Berlin ist mal wieder einen Schritt weiter: Dort gibt es Anbieter, die Touristen an verlassene Orte führen — mit Genehmigung. So erkunden die Teilnehmer bei mehrstündigen Foto-Rundgängen die amerikanische Abhörstation am Teufelsberg, das Gefängnis Köpenick oder die Kinderheilstätten in Hohenlychen.

"Das Brandenburger Tor oder den Fernsehturm zu fotografieren, ist langweilig", sagt Organisator Andreas Böttger (www.go2know.de). Die Ruinen-Fans legen großen Wert aufs Fotografieren. Für Chris (39) steht das Motiv im Mittelpunkt. "Früher ging es um den Ort, heute um das Foto", gibt er zu. "Manch einer würde sich wundern, was wir für Ausrüstung mitschleppen", sagt auch Urban Explorer Kevin aus Krefeld. Bei einer Tour entstehen bis zu 300 Fotos. Sie zeigen vor allem, wie die Natur sich ihr Terrain zurückerobert oder Gegenstände, die die Menschen zurückgelassen haben. Das können Zeitungen sein, Kalender, aber auch Kaffeetassen und Büro-Einrichtungen.

Die Szene ist bunt gemischt. Einige Urban Explorer (Urbexer) genießen schon den kleinen Kick des Verbotenen, wenn sie in leerstehende Gebäude gehen. Juristisch gesehen ist das Betreten eines Grundstücks ohne Genehmigung Hausfriedensbruch. Da die Urbexer tagsüber unterwegs sind, fallen sie selten auf. Umstritten ist auch, ob man die verlassenen Orte benennt, damit nicht zu viele dorthin gehen. Je nach Zustand ist ein Gebäude ein Schatz, den man nicht mit allen teilen möchte. Alle Urban Explorers haben allerdings einen Ehrenkodex: "Wir zerstören nichts und nehmen nichts mit", betont Kevin (24). Verschlossene Türen bleiben geschlossen. "Wir brechen nichts auf, wir hinterlassen nur Fußspuren." Die Erkunder gehen meist in Gruppen und sind sich der Risiken der Ruinen bewusst. "Einen Holzboden würde ich beim Urban Exploring nie betreten", betont Holger. Niemand wisse, wie stabil er sei — und vor allen Dingen: was drunter ist.

Die Fans der Industrieruinen interessiert die Geschichte hinter den Mauern. André Winternitz sucht hinter kaputten Glasscheiben, bunten Graffiti und von Moos überwucherten Wänden vor allem die Schönheit der Architektur. Gerade auf Industriebrachen fasziniert ihn die nahezu sakrale Architektur der Werkhallen, die ohne Maschinen wirken wie eine Kathedrale der Arbeiter, und die morbiden Motive. "Jede Bauart, jeder Verfall ist anders", sagt der 37-Jährige aus Schloß Holte-Stukenbrok (Kreis Gütersloh). Je nachdem, in welchem Zustand die Gebäude aufgegeben wurden, und was die Firmen zurückließen, ergeben sich groteske Motive — etwa wenn in der Waschkaue einer Ruhrgebietszeche noch ein Gummistiefel in einem Korb hängt oder ein Paar Socken auf einer Bank liegt.

Winternitz, der als Online-Redakteur arbeitet und in seiner Freizeit auf der Suche nach "Rotten Places", nach verfallenen Orten, ist, sieht sich trotz seines Hobbys jedoch nicht als Urban Explorer. Sein Anliegen ist ein anderes: Er bietet auf seiner Homepage den verlassenen Gebäuden quasi eine virtuelle Ruhestätte. Wenn er über alte Gebäude spricht, gerät er regelrecht ins Schwärmen: Ein Förderturm ist für ihn eine Schönheit an sich und ein Zeugnis "industrieller Schaffenskunst".

Durch Recherche erarbeitet er sich die Geschichte der Bauwerke, mit jedem Baustein an Wissen, wird die Ehrfurcht vor dem Gebäude größer. Zudem arbeitet er mit Investoren, Bauämtern und Heimatvereinen zusammen an der Dokumentation, um ein Stück Geschichte in der jeweiligen Region festzuhalten. Und manchmal gelingt es ihm dank solcher Kooperationen, den Verfall sogar zu verhindern.

André Winternitz wartet nicht bei jedem baufälligen Gebäude auf die Erlaubnis des Besitzers, es sich anzuschauen. "Bei Privatleuten ist eine Genehmigung meist kein Problem", sagt er. Je größer eine Liegenschaft sei, desto schwieriger werde es jedoch. "Bis man sich da durchgefragt hat und die Genehmigung erteilt ist, kann das Gebäude schon abgerissen sein." Aber auch für ihn gilt: Der Zugang muss frei sein. Er klettert nicht über Zäune oder durch Fenster.

Für die Liebhaber der verlassenen und verfallenen Orte gibt es neben dem Ruhrgebiet ein Eldorado: den deutschen Osten. Alle wollen dort hin, wo die wahren Schätze in einer Vielzahl und Größe liegen, die es in NRW kaum noch gibt. Etwa in Zeitz, einer Stadt in Sachsen-Anhalt. Dort blühen die Landschaften mittlerweile auch in stillgelegten Fabriken oder in der Regenrinne an Gründerzeithäusern.

"Dort sind ganze Ortsteile verlassen", sagt André Winternitz. Wer dort hindurchgehe, habe das Gefühl, er laufe durch eine Art Filmkulisse. "Das ist ein Reiz für sich." Zumindest für diejenigen, die den Ruinen verfallen sind.

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