Berlin Rentner besetzen Seniorentreff

Berlin · Seit Wochen hält eine Gruppe streitbarer Senioren ihren Treff "Stille Straße 10" im Berliner Nordosten besetzen. Sie wollen damit gegen die Schließung der Einrichtung protestieren. Ihre Erfolgsaussichten sind gering, doch die Welle der Solidarität wächst weiterhin.

Seit knapp sieben Wochen wohnen acht Rentner nicht mehr daheim in ihren Mietwohnungen und Häuschen im Berliner Nordosten, sondern in ihrem Seniorentreff. Neben Kaffeekannen, Mal- und Basteltischen stehen ihre Liegen mit Schlafsäcken. Eigentlich kamen sie immer zum Bridge-Spielen, Turnen und Klönen her. Am Gartenzaun vor dem Haus haben die Senioren jetzt bunte Plakate aufgehängt: "Hände weg von der Stillen Straße 10!"

Stille Straße 10, das ist der Treffpunkt der acht wütenden Senioren, über die ganz Berlin heute spricht. Mit 65 plus sind die Rentner unter die Hausbesetzer gegangen. "Damit hätten die wohl nie gerechnet", sagt die 67-jährige Margret Pollak. Sie lächelt zufrieden. In den vergangenen sieben Wochen hat sie nur drei Nächte daheim bei ihrem Ehemann verbracht. Der sei das neue Hausbesetzer-Dasein seiner Frau inzwischen schon ein wenig leid. Aber die Senioren wollen der Bezirksverwaltung die Stirn bieten.

Der Treff soll geschlossen werden, weil sich der verschuldete Bezirk die jährlichen 26 000 Euro für den Betrieb sowie die 2,5 Millionen Euro für die aus seiner Sicht dringend notwendige Sanierung nicht leisten kann. 300 ältere Damen und Herren, die regelmäßig zu Kursen und Veranstaltungen kommen, sollen aber nicht um ihren vertrauten Ort gebracht werden dürfen, meinen die Besetzer. "Die denken, sie können mit älteren Menschen machen, was sie wollen", schimpft die 72-jährige Doris Syrbe, die den Protest anführt. "Aber wir haben hier seit 15 Jahren unsere Gemeinschaft. Die lassen wir uns nicht zerstören."

Zum Mittagessen gibt es in der Stillen Straße 10 heute Kartoffelbrei, Rotkohl und Hackbraten. Etwas gediegener geht es schon zu, wenn Rentner unter die Hausbesetzer gehen. Solidarität erfahren sie trotzdem auch von der Jugend. "Wir hatten schon Besuch aus der Hausbesetzer-Szene von West-Berlin", erzählt Doris Syrbe. Sie hat den größten Teil ihres Lebens in der DDR verbracht. Jetzt gewinnt sie manch unerwartete neue Erkenntnis. Die West-Berliner Hausbesetzer seien ja "hoch entwickelte und gut ausgebildete Menschen", sagt sie. Außerdem war eine Gruppe junger Spanier da, die ein Transparent der Solidarität ins Wohnzimmer gehängt hat, mit spanischem Text. "Viele junge Menschen aus allen Stadtteilen Berlins bringen uns Kuchen."

Die Schauspielerin und Sängerin Jasmin Tabatabai, die gleich um die Ecke wohnt, hat via "Bild"-Zeitung erklärt, dass sie "ihre Rentner" nicht hängen lässt. Schauspielerin Anna Maria Mühe hat die Hausbesetzer zur Vorpremiere ihres neuen Films "Bis zum Horizont, dann links!" eingeladen. Darin geht es um eine Gruppe von Altersheimbewohnern, die aus ihrem grauen Alltag ausbrechen.

Auch Doris Syrbe und ihre Mitstreiter sind irgendwie ausgebrochen aus ihrer gemütlichen Welt der Bridge-Runden und Kaffeekränzchen. "Wir sind jetzt weltweit bekannt", sagt Syrbe und verschränkt die Arme vor dem Oberkörper. Sie trägt einen auffallend grünen Lidschatten passend zu ihrem Oberteil. Man möchte sich nicht gern mit ihr anlegen. Eigentlich, sagt sie, mag sie das Rampenlicht aber nicht. "Wenn das alles hier vorbei ist, trete ich gern zurück in die zweite Reihe."

Was mit ihrem Treff passieren soll, ist Teil einer Entwicklung, die in Berlin schon lange auch in anderen Stadtteilen Gemüter erhitzt. Die Stille Straße 10 liegt inmitten einer gut betuchten Wohngegend. Bekannteste Straße ganz in der Nähe ist der Majakowskiring, der vor dem Mauerfall nur "das Städtchen" genannt wurde. Die früheren DDR-Staatschefs Erich Honecker und seine Frau Margot lebten am Majakowskiring, ihre Vorgänger Walter Ulbricht und seine Frau Lotte auch. Heute stehen hier schicke Bungalows mit Solarzellen auf dem Dach. "Grün und urban wohnen" wirbt eine Baufirma wenige Hundert Meter vom Seniorentreff entfernt. Die Rentner vermuten, dass der Bezirk das "Filetgrundstück" in der Stillen Straße 10 verkaufen und sie deshalb loswerden will. Sie fürchten, dass auch sie Opfer eines Verdrängungsprozesses werden, der bereits viele Viertel in Berlin erfasst hat und Ärmere, Arbeitslose und Senioren an den Stadtrand drängt, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten können. Die Senioren halten es lediglich für einen Vorwand, dass "ihr" Haus saniert werden muss.

Der Bezirk hat ihnen Angebote gemacht, die einzelnen Gruppen könnten sich künftig woanders treffen, in Kitas, in anderen Gemeinschaftsräumen. "Aber wir wollen uns nicht mehr verpflanzen lassen", erklärt Syrbe. Wenn es sein muss, kann sie ihren Häuserkampf auch politisch begründen. "Wir sind alle Kriegskinder und haben unser Land wieder aufgebaut, wir haben die DDR und die Wende überstanden." Ihre Stimme bricht kurz ab. "Wir haben alle ein Leben lang gearbeitet." Das kleine Glück im Treff, wo es Kaffee und Kuchen noch für wenig Geld gibt und "auch noch mal ein Tänzchen" für ärmere Rentner drin ist – es muss doch wohl möglich sein. Einen Teilerfolg haben sie jetzt erreicht. Der Bezirk will prüfen, ob sich ein neuer Träger für den Treff finden lässt. Bis zur Klärung würde die Stille Straße wieder regulär geöffnet. Doris Syrbe und ihre Mitstreiter könnten dann fürs Erste zurück nach Hause. Wenn es nicht so kommt, wollen sie bis zum Äußersten gehen: Man müsste sie schon hinaustragen.

(RP)
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