Wilhelmshaven Schon 16 tote Pottwale an Nordsee-Küste

Wilhelmshaven · Wieder sind in der Nordsee vier Tiere verendet. Sie wurden an der Küste von Lincolnshire in Großbritannien angespült. Damit steigt die Zahl der in der Nordsee umgekommenen Wale auf 16. Wissenschaftler rätseln über die Ursachen.

Von Weitem sieht es aus, als wäre die graue Erhöhung am Strand nur eine weitere Ansammlung von Steinen. Doch kommt man ihr näher, werden eine Flosse erkennbar und ein Maul. Der vermeintliche Steinhaufen entpuppt sich für die Spaziergänger als gestrandeter Pottwal. Am Freitag wurde er an der Küste Norfolks in Großbritannien angespült. Zwei Tage später werden drei weitere Tiere an der Küste entdeckt. Sie stammen vermutlich aus einer Herde und haben sich in der Nordsee verirrt. Auch an den deutschen und niederländischen Küsten wurden in diesem Jahr bereits Pottwale angespült. Mit ihrem Tod erhöht sich die Zahl der in diesem Jahr bisher gestrandeten Pottwale auf 16. Warum sich die Tiere dorthin verirrt haben, darüber rätselt die Wissenschaft.

Sind diese Strandungen Einzelfälle? Andrea Steffen, Gründerin des Düsseldorfer Vereins "Pottwale", hat Daten zusammengetragen, aus denen hervorgeht, dass Walstrandungen mindestens seit dem Jahr 1575 dokumentiert sind. Wale haben sich also immer schon verirrt. Laut Nationalpark Wattenmeer wurden seit 1990 rund 80 Pottwale an den Küsten Dänemarks, Deutschlands und der Niederlande tot aufgefunden.

Gibt es heute mehr Strandungen? "Es waren in letzter Zeit tatsächlich mehr, obwohl wir früher um die 1,1 Millionen Pottwale in den Meeren hatten und heute neuesten Schätzungen zufolge nur noch 360.000", sagt Harald Benke, Meeresbiologe und Direktor des Deutschen Meeresmuseums in Stralsund. Für ihr Buch "Wale hautnah" haben Andrea und Wilfried Steffen die Daten unter die Lupe genommen. So strandeten im Jahr 2002 drei Wale, 2000 waren es zwölf, 1997 sogar 20 Tiere. Statistiken aus früherer Zeit belegen ähnliche Zahlen: Im Jahr 1723 wurden 21 tote Tiere auf der deutschen Insel Neuwerk angespült. Im Hinblick auf den damaligen und den aktuellen Bestand sei das jedoch ein Anstieg, sagt Benke.

Welche Pottwale verirren sich? Nur Pottwalbullen. Sie verbringen den größten Teil des Jahres in den kalten und nährstoffreichen Gewässern des Nordatlantiks, während sich die Weibchen mit den Jungtieren in den gemäßigten bis tropischen Gewässern des Atlantiks aufhalten. "Bei der Wanderung der Bullen müssen diese hinter Schottland nach Westen abbiegen, um dann im Atlantik ihre Route fortzusetzen", erklärt Steffen. Biegen sie falsch ab, gelangen sie in die Nordsee, die zunächst tief genug ist, dann aber zur flachen Falle wird.

Wieso verlassen die Wale die Nordsee nicht wieder? Das ist nicht so einfach. Sitzen sie einmal in der Falle, kommen sie nur durch den Ärmelkanal wieder heraus, sagt Meeresbiologe Benke. "Und der ist ein Nadelöhr." Hinzu kommt, dass sie ihre Orientierung verlieren. "Ihre Echoortung versagt, da sich die Echos im flachen Wasser verlieren", erklärt Andrea Steffen.

Wie geraten die Wale überhaupt in die Nordsee? Das ist die Frage der Fragen. Dazu gibt es einige Erklärungsversuche: "Magnetfeldstörungen, starke Strömungen oder Sonnenflecken, zunehmender Lärm, als dies wurde zur Begründung herangezogen", sagt Steffen. "Nichts ließ sich bisher als sichere Ursache beweisen." Relativ neu sei eine Studie, die davon ausgeht, dass bestimmte Wetterbedingungen ursächlich sein könnten, "wenn diese zu einer geringfügigen Erwärmung des Nordatlantiks und der Nordsee führen", so Steffen. "Forscher gehen davon aus, dass die im Nordatlantik am häufigsten vorkommende Kalmarart "Gonatus fabricii", normalerweise kein Bewohner der Nordsee, bei solchen Bedingungen weiter südlich anzutreffen ist. Der Kalmar, Hauptbeute der Wale, könnte diese so auf eine falsche Fährte und in die flachen Gewässer führen.

Gab es diese Wetterbedingungen auch im aktuellen Fall? Andrea Steffen hat sich die Wetterdaten angesehen und erklärt, dass der Dezembersturm "Frank" warmes Wasser bis in die Nordsee transportiert habe. "Die Wassertemperatur um Schottland lag zum Beispiel bei mehr als zehn Grad - normal sind dort Ende Dezember acht oder neun Grad", so Steffen. Das sei ein kurzfristiges Phänomen und habe nichts mit der globalen Klimaerwärmung zu tun. "Anfang Januar, als der Sturm vorbei war, hat sich die Temperatur der Nordsee schon wieder reguliert. Doch da waren sie schon falsch abgebogen."

Ist der Mensch für die Strandungen verantwortlich? Wissenschaftler sind sich darin uneins. Harald Benke meint, dass der Lärm in den Meeren einen Anteil daran hat, dass die Tiere ihre Orientierung verlieren. "Sie finden ihren Weg mittels Echoortung. Die sagt ihnen: Ich bin auf dem richtigen Weg." Erdölplattformen, mehr und schneller fahrende Schiffe, der Bau von Windkraftparks - all das sorge dafür, dass von Jahr zu Jahr mehr Krach unter der Meeresoberfläche herrsche. "Der Mensch nimmt seine Umgebung visuell wahr. Wo die Tiere durch Lärm ihre Orientierung verlieren, da wäre es bei uns etwa dichter Nebel", erklärt Benke. Und auch wir würden im dichten Nebel nicht aus der Nordsee herausfinden.

(RP)
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