Thomas Anders lässt sich in den USA feiern

Washington · Postkartenschöne Bilder aus San Francisco flimmern über die Bühne, die Golden Gate Bridge, steile Straßen, alte Straßenbahnen. Fehlen nur noch die berühmten Seelöwen vom Pier 39. Er wolle die Leute auf eine Reise nach Kalifornien mitnehmen, so hatte Thomas Anders das Lied angekündigt, "Der beste Tag meines Lebens", einen neuen Titel. Die Leute aber wollen etwas anderes, sie wollen Schnulzen aus den 80er Jahren. Wann immer der Sänger ansagt, dass als Nächstes ein solches Lied folgt, "a song from the eighties!", bricht ein Jubelsturm los.

Der Schauplatz: Die Constitution Hall, eine altehrwürdige Halle schräg gegenüber vom Weißen Haus, in der auch schon Whitney Houston auftrat. Das Publikum: Ukrainer, Russen, Letten, Litauer, Vietnamesen, Amerikaner mit Wurzeln in diesen Ländern, um genauer zu sein. Anders singt vor den Kindern von Auswanderern, die es nach dem Ende des Kalten Krieges zum früheren Klassenfeind verschlagen hat. Und vor den Auswanderern selber. Jedenfalls ist Russisch die Sprache, die das Stimmengewirr im Foyer und an den Weintheken der Constitution Hall prägt.

Um das Phänomen zu erklären, sagt Lutz-Rainer Seidel, müsse er mit dem Kalten Krieg beginnen, mit einem Kapitel Kulturgeschichte aus jener Zeit. Seidel, der aus Dresden stammt, sitzt neben Anders, der mit bürgerlichem Namen Bernd Weidung heißt, in einem Fischrestaurant an der K Street, die der Volksmund "Lobby Lane" nennt, weil sich dort die Büros der Hauptstadt-Lobbyisten konzentrieren. Während der sonnengebräunte Sänger in kleiner Runde davon erzählt, wie er im Alter von sechs Jahren seinen ersten Auftritt in einem Schützenverein hatte, als Gage belohnt mit einer Tüte Chips und einer Schokolade, erzählt sein Impresario von einer Tagung des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe. Auf der sei irgendwann Mitte der Achtzigerjahre beschlossen worden, Schallplatten mit Liedern von Modern Talking zu pressen. Es war der amtliche Segen für eine Musik, an der die Funktionäre nichts Subversives entdecken konnten. "Musikalisch wollte man Friede, Freude, Eierkuchen", erinnert sich Seidel, "und seien wir ehrlich, Modern Talking rief ja nun nicht gerade zur Revolution auf." So kam es, dass Thomas Anders und Dieter Bohlen östlich der Elbe auf Hunderttausenden von Platten zu hören waren, auf manchen offiziell und sehr vielen offenbar schwarz gepressten. Bis nach Hanoi und Kamtschatka, sagt Seidel. Aber auch im Iran.

Vor ein paar Jahren war es dann ein aus Teheran stammender Armenier, der sich bei dem Manager meldete und Interesse an einer Tournee signalisierte. Der Mann lebte inzwischen in Los Angeles, wo auch Anders drei Jahre verbracht hatte, als er 1987 nach dem ersten Bruch mit Bohlen ein Haus in Beverly Hills mietete, um zur Ruhe zu kommen. Der aus Teheran nach Kalifornien gezogene armenische Iraner also organisierte Anders' Konzertstart in den Vereinigten Staaten. Seidel wollte erst nicht so recht daran glauben, aber dann wurde es - dank der Fans der Migrantengemeinde - ein voller Erfolg.

Der Premiere des Jahres 2015 folgten in diesem März Auftritte in Washington, Boston und Seattle, jeweils vor ausverkauften Häusern. "You're My Heart, You're My Soul", "Brother Louie", "Cheri, Cheri Lady": Die alten Lieder haben die Constitution Hall, ein neoklassizistisches Architekturdenkmal, in eine Disco verwandelt. Je länger Anders singt, umso ausgelassener tanzt das vornehmlich weibliche Publikum zwischen den Stuhlreihen. Die Musik, erklärt Seidel den Jubel, erinnere die Ukrainer, Russen, Letten an ihre Familienfeiern von früher. Es sei wie mit einem ebenso alten wie fernen Bekannten, den man endlich mal aus der Nähe sehe.

(RP)
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