Christian Seltmann Touri-Guide: Alle wollen "Adolfiges" sehen

In seinem Buch "Where the fuck is the Führer?" beschreibt der 47-Jährige, wonach Berlin-Besucher verlangen.

Berlin Christian Seltmann hat jahrelang Touristen durch Berlin geführt. Dabei braucht er Geschick für psychologische Kriegsführung, muss über Hitler lachen und Junggesellinnen Komplimente machen können.

Was wollen Touristen in Berlin gern sehen?

Seltmann Vor allem Touristen aus den USA und England sind an der Nazi-Geschichte interessiert. Dazu kommen Mauer und Brandenburger Tor. Ein guter Stadtführer zeigt ihnen das natürlich. Aber er zeigt Ihnen auch Berlin als menschliches Biotop. Dieses Berlin ist ja groß und verwirrend.

Ihr Buch heißt "Where the fuck ist the Führer?". Das bedeutet frei übersetzt: Wo zum Teufel ist der Führer. Hat das allen Ernstes mal jemand gefragt?

Seltmann Es geht in die Richtung. Das Problem ist oft, dass es ja von Hitler fast nichts zu zeigen gibt. Die Leute kommen häufig aus Amerika hierher und haben viel gehört und viele aufgebauschte Dokumentationen über Nazis gesehen. Dann sind sie hier und denken sich: Irgendwo muss es doch sein, dieses Reich des Bösen.

Sind sie dann enttäuscht, dass es kaum noch was aus der NS-Zeit zu sehen gibt?

Seltmann Es ist ja unser Job als Touri-Guide, das zu verhindern. Die noch verbliebene vorzeigbare Nazi-Architektur ist nicht so eindrucksvoll . In Mitte gibt es noch das heutige Finanzministerium, wo früher Görings Ministerium war. Aber auch das ist ein normaler Verwaltungsbau der 30er-Jahre. Sie haben also das Problem, dass das Objekt des ausländischen Interesses nicht mehr sichtbar ist. Das ist aber in Berlin fast immer so. Wenn sie als Guide eine Mauer-Tour machen, haben Sie das gleiche Problem. Von der Mauer ist ja auch kaum noch was übrig.

Sie sprechen von "Adolfigem", was die Leute sehen wollen. Was ist das?

Seltmann Man muss Adolf Hitler ja ziemlich oft nennen bei soo einer Tour und ich glaube, man muss es dann manchmal damit halten wie Charlie Chaplin in "Der große Diktator". Man braucht Humor. Wenn es um die Nazis gehen soll, zeige ich eigentlich immer diese Stelle, an der Eva Brauns und Hitlers Leichen verbrannt worden sind. Das ist heute ein Spielplatz unterhalb vom Holocaust-Mahnmal. An manchen Nachmittagen steht stehen dort 300 Touristen herum und betrachten einen Sandkasten. Das ist doch grotesk: Der größte Unhold aller Zeiten wurde, nachdem er sich umgebracht hat, herausgezerrt aus dem Bunker, dann draußen mit Benzin übergossen, und dann musste man feststellen, er brennt nicht so gut, während man von sowjetischen Soldaten beschossen wurde. Dann wurde der angekokelte Leichnam doch wieder in den Führerbunker gebracht. Wenn Sie das so sehen, wird das Ende des Dritten Reiches zu etwas Affigem.

Welche Klischees über Berlin bringen die Besucher mit?

Seltmann Viele finden Berlin unglaublich groß, wild und irgendwie anarchisch und verrückt. Viele denken: Hier hat immer alles auf, man kann immer Party machen, auf der Straße Alkohol trinken. Es stimmt ja auch, dass man das alles machen kann. Aber manchmal muss man die Leute auch daran erinnern, dass das in Berlin nicht alle Leute machen und dass es auch nicht immer angebracht ist. Als Berlin-Guide muss man aber auch ein Freak sein, also meistens machen das auch eher schräge Typen, die irgendwie zu diesem Image von Berlin passen. Man kann sich schlecht als Otto-Normal-Verbraucher hinstellen und diese Stadt repräsentieren. Wer das länger macht, so wie ich, hat schon auch einen Hau weg. Der Star ist aber ein älterer DDR-Zausel, der sich ständig verhaspelt und viel zu lange Touren macht, weil er einfach kein Ende findet. Alle Guides sind schräg: Es interessiert die Guides nicht, ob da jemand mit einem Netto-Haushaltseinkommen von 8000 Euro vor ihnen steht. Sie erzählen trotzdem, dass unsere Welt viel zu kapitalistisch geworden ist. Sie lästern über Investoren, die alles zubauen und dicke Autos, die im Weg herumstehen.

Wie hält man die Leute bei einer Führung bei der Stange?

Seltmann Sie müssen als Guide dafür sorgen, dass diese wildfremden Leute, die ja im Urlaub sind, Ihnen gehorchen. Solche Touren sind ja auch gefährlich: Sie fahren am Nachmittag mit Fahrrädern und Segways mit den Leuten mitten durch die Stadt. Da muss man psychologische Kriegsführung anwenden. Man muss die Männer, die immer gern den Platzhirsch geben, austricksen, indem man sich erstmal den Frauen zuwendet. Irgendwann verstehen dann alle die Regeln und ein Gruppengefühl entsteht. Leuten, die nicht gewöhnt sind, in Großstädten Fahrrad zu fahren, muss man erstmal einiges beibringen.

Sinkt bei manchen die Hemmschwelle, wenn man in so einer Gruppe unterwegs ist?

Seltmann Touristen beachten manchmal nicht, dass andere ja hier ihr normales Leben führen. Es geht natürlich nicht, dass man mit 15 Fahrrädern den Kinderwagen im Weg steht. Oder dass man am Alexanderplatz auf Obdachlose mit dem Finger zeigt. Oder auf Menschen, die tätowiert und gepierct sind, was man vielleicht von zuhause nicht so kennt. Ich sage dann: Zeigt lieber nicht auf alles mit dem Finger, es könnte zuschlagen.

Wie stark ist Ihr Nervenkostüm?

Seltmann Man braucht schon echte Pfadfinder-Leiter-Erfahrung. Am Anfang ist es heftig. Wie es aber meistens ist, ist man selbst schuld, wenn man genervt ist. Irgendwann weiß man eben, wie lang die grüne Ampelphase ist. Man muss ständig variieren zwischen den Rollen Historiker, Jugendgruppenleiter und Kegelbruder.

Mögen Sie Touristen noch?

Seltmann Ja, schon. Allerhöchstens 20 Prozent sind echt doof. Es gibt eben doofe Leute, die aus irgendwelchen Gründen nicht zuhören und bescheuerte Fragen stellen. Ein Beispiel: Wir stehen mit einer Schulklasse an der Mauergedenkstätte Bernauer Straße, also an dem Todesstreifen. Ich hatte alles erklärt, mit den schießenden Soldaten und dem Stacheldraht. Dann sind wir auf die Westseite und ich habe erklärt, dass die Mauer hier weitgehend zugänglich und deshalb bunt besprüht war. Und da fragt mich allen Ernstes ein Mädchen: "Äh, wieso war denn die Ostseite nicht besprüht?" Was soll man dazu noch sagen? Und manche nerven, weil sie die Stadt mit Disneyland verwechseln.

Was sind Ihre Lieblingsgruppen?

Seltmann Ganz klar Junggesellinnenabschiede. Das ist ganz toll. Sie haben sieben, acht junge Frauen, die keinen historischen Vortrag hören, sondern fotografiert werden wollen. Man fotografiert also junge Frauen vor Sehenswürdigkeiten im Sonnenlicht. Und am besten erzählt man nix, außer dass sie toll aussehen, unheimlich charmant sind und dass es die tollste Tour ist, die man je gemacht hat. Dann sind alle glücklich.

RENA LEHMANN FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

(rl)
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