Darmstadt Tränenreicher Prozessauftakt im Fall Tugçe

Darmstadt · Sanel M. hat zum Prozessauftakt den tödlichen Schlag gegen Tugçe gestanden. Die Familie der getöteten Studentin tritt vor Gericht als Nebenkläger auf. Für sie ist der Tod der Tochter noch immer nicht zu fassen.

Als der Angeklagte Sanel M. Saal 3 des Landgerichts Darmstadt betritt, kommen Tugçes Mutter die Tränen. Die Eltern und die beiden älteren Brüder der getöteten Studentin sind Nebenkläger in dem Verfahren. Leid und Anspannung sind ihnen deutlich anzusehen. "Die Schockstarre ist vorüber. Wir sind jetzt in der Realisierungsphase. Die ist noch schlimmer", sagt der jüngere Bruder Dogus. Er schildert, wie sich das Leben seiner Familie seit dem tödlichen Schlag gegen die 22-Jährige auf dem Parkplatz eines Schnellrestaurants in Offenbach Mitte November vergangenen Jahres verändert hat.

Seine Eltern seien nicht mehr arbeitsfähig, sagt der 25 Jahre alte Wirtschaftsstudent am ersten Prozesstag. Sein Bruder Ulas (27) habe seine Ausbildung abgebrochen, er selbst ein Urlaubssemester eingelegt. Den gesundheitlichen Zustand seines Vaters beschreibt Dogus als "extrem schlecht". Und: "Meine Mama geht eigentlich gar nicht raus", berichtet er. Die Familie tritt als Nebenkläger auf und ist beim Prozess anwesend. Vor der Vorführung der Videos von Überwachungskameras am Tatort verlassen die Eltern aber den Gerichtssaal.

Dogus schildert seine Schwester als "sehr lebensfroh, hilfsbereit, liebevoll, zielstrebig und fleißig". Sie habe neben ihrem Lehramtsstudium gejobbt und so ihre Kosten gedeckt. "Tugçe hat hauptsächlich an den Wochenenden gearbeitet. Da kommt man nicht so zum Feiern", sagt ihr Bruder. "Ihr Gerechtigkeitsempfinden war sehr hoch, und sie war ein sehr hilfsbereiter Mensch." Dass Tugçe zwei minderjährigen Mädchen in der Toilette des Schnellrestaurants gegen den Angeklagten und seine Kumpels zur Hilfe kommen wollte, hält Dogus für hochwahrscheinlich: "Das ist meine Schwester."

Vor Gericht steht der 18-jährige Sanel M.. Er muss sich wegen Körperverletzung mit Todesfolge vor der Jugendkammer verantworten. Den Blickkontakt zu Tugçes Familie vermeidet er. Gleich zu Beginn der Verhandlung gesteht er mit tränenerstickter Stimme, Tugçe eine Ohrfeige gegeben zu haben. Er habe aber niemals mit ihrem Tod gerechnet: "Ich kann mir gar nicht vorstellen, was ich der Familie damit für Leid und Schmerz angetan habe. Es tut mir so leid."

Sanel M. spricht von seiner schwierigen Schullaufbahn. Er sei auf Wunsch seines Vaters nach der Grundschule in Offenbach zunächst aufs Gymnasium gegangen und später dann unter anderem wegen eines Körperverletzungsverfahrens von der Realschule geflogen. An einer gewerblich-technischen Berufsschule habe er viel geschwänzt, dann im vergangenen Sommer an seiner Wunschschule, einer Berufsschule für Wirtschaft und Informatik, den qualifizierten Hauptschulabschluss geschafft. Zuletzt habe er dann vor allem Bewerbungen geschrieben, Fußball gespielt und Fitness gemacht - "Joggen und so, kein Kampfsport", sagt er. Am Montag nach der Tatnacht hätte er ein Vorstellungsgespräch bei der Post gehabt. Mit seinen Freunden habe er "einmal im Monat, würde ich sagen", Whisky mit Cola gemischt getrunken. Mindestens 0,8 Promille hatte er laut Staatsanwaltschaft in der Tatnacht.

Unter Ausschluss der Öffentlichkeit vernimmt die Kammer zwei Mädchen im Alter von 13 beziehungsweise 14 Jahren. Tugçe soll ihnen vor dem tödlichen Schlag geholfen haben, als die beiden von dem Angeklagten und seinen Begleitern in der Damentoilette des Fast-Food-Lokals belästigt worden sein sollen. Oberstaatsanwalt Homm erklärte vor der Anhörung, die Mädchen hätten sich nicht bedroht gefühlt und zugetraut, allein aus der Situation herauszukommen. Nach den nicht-öffentlichen Aussagen beurteilen dies die Anwälte beider Seiten unterschiedlich.

Für den Prozess sind zehn Verhandlungstage geplant. Etwa 60 Zeugen und zwei Sachverständige sollen gehört werden. Ein Urteil wird Mitte Juni erwartet.

(dpa)
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