Richard David Precht "Unsere Lehrerausbildung ist schlecht"

Köln · Der Bestsellerautor kritisiert das Schulsystem: den Fächer-Kanon wie auch das formalisierte Pauken nach Lehrplänen.

Promis und ihre literarischen Werke
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Nach Erkenntnissen der US-amerikanischen Bildungsforscherin Cathy N. Davidson werden — auch aufgrund des technologischen Fortschritts — 65 Prozent unserer Kinder in Berufen arbeiten, die es noch nicht gibt. Was tun? Vor allem das Schulsystem revolutionieren. Das schreibt Bestsellerautor und TV-Philosoph Richard David Precht in seinem neuen Buch "Anna, die Schule und der liebe Gott" (Goldmann, 19,99 Euro); darüber wird Precht auch zum Auftakt der neuen phil.cologne (26. bis 30. Juni; Programm unter www.philcologne.de) in Köln reden.

Welche Assoziationen haben Sie bei dem Wort Lehrplan?

Precht Keine positiven, weil ich glaube, dass man zu planmäßig nicht lernen kann. Und ich glaube auch nicht, dass es die Aufgabe von Kultusministern ist, so minutiös vorzugeben, was Schüler zu lernen haben. Außerdem sind Lehrpläne so ambitioniert, dass sie ohnehin nie erfüllt werden können. Sie führen aber dazu, dass jedes Jahr die gleichen Bücher aus dem Regal gezogen werden — also immer die ,Judenbuche'. Langweiliger geht's nicht. Die Lehrer können einen großen Teil ihrer Kreativität nicht einsetzen, weil sie dazu gezwungen sind, sich an die Lehrpläne zu halten.

Aber ist es nicht auch ein guter Luxus, vermeintlich Überflüssiges zu lernen und in weiten Wissensfeldern zu stöbern?

Precht Absolut. Der Luxus, aus ganz Vielem schöpfen zu können und später davon wieder einiges zu vergessen, ist gut. Aber Sie sprachen zu Recht vom ,stöbern'. Genau das aber ist nicht die Schule, dort wird nicht gestöbert. In der Schule müssen Sie das Wissen erwerben, weil es in Tests und in Arbeiten abgefragt wird. Und sie müssen die Festplatte wieder freiräumen für das nächste, was dann kommt. Das Problem ist also nicht die Wissensfülle als Wissensfülle, sondern die fast schon militärische Vorgabe der Aneignung. Stöbern ist immer etwas Lustvolles; und genau das findet in den Schulen nicht statt. Beim Stöbern behält man vielleicht zehn Prozent, von dem, was an Wissen angeboten wurde; und nicht ein oder zwei Prozent, wie es heute leider der Fall ist.

Sie plädieren gleich für eine echte Bildungsrevolution — mit allen denkbaren Gefahren . . .

Precht Wir sollen nicht gleich alles anders machen. Ich habe einen Zehnjahresplan entworfen und schlage vor, welche Dinge wir in welcher Reihenfolge ändern müssten. Noten etwa werden wir kaum von dem einen auf den anderen Tag abschaffen können. Das wäre völlig naiv. Aber die Lehrerausbildung könnte schon in zwei Jahren ganz anders aussehen. Revolution sage ich deshalb, weil die letzten Reformen alle Verschlimmbesserungen waren. In all den Diskussionen hat es bisher keinen gegeben, der sagte, so wünsche ich mir die Schule in zehn Jahren. Es gab immer nur Krisenmanagement, aber keine Vision.

Wie aber sollen Visionen entwickelt werden, wenn Bildungspolitiker in Legislaturperioden denken müssen?

Precht Das ist der Punkt. Es gibt durchaus gute Bildungspolitiker — Sylvia Löhrmann in NRW oder Andreas Stoch in Baden-Württemberg. Und wenn man gut ist, schafft man es vielleicht in vier Jahren, einiges zu bewegen. Und dann wird man abgewählt, und andere drehen alles wieder um. Schlimmer: Wenn sie Revolutionäres wagen, steigt die Chance, dass sie die nächste Wahl verlieren. Denn in jeder tiefgreifenden Umbruchphase gibt es immer ein großes Potenzial an Unzufriedenheit.

Wer aber soll es dann machen?

Precht Wenn man sich auf eine Schulform einigen würde und die Kultusminister ihre Kompetenz an die Schulen abtreten würden, dann gäbe es eine echte Chance. Plötzlich könnten Schulen das für sie Richtige entwickeln und werden sich zu Höchstleistungen aufschwingen.

Was lehren denn die Schulen derzeit Ihrer Meinung nach?

Precht Das Durchlavieren. Die Intelligenz unserer Abiturienten besteht darin, sich mit einem minimalen Aufwand durch alle erdenklichen Viten durchzuschlängeln. Das ist auch nicht schlecht; aber es hat nichts mit Kreativität und Persönlichkeitsentwicklung zu tun.

Können Sie die fünf schlimmsten Fehler unseres Schulsystems benennen?

Precht Das ist unsere Anmaßung, Kinder im Alter von zehn Jahren in Töpfe zu sortieren und diese zur Hauptschule oder zum Gymnasium zu schicken. Zweitens: Wir parzellieren die Welt des Wissens in lauter verschiedene Fächer. Wir lernen dadurch nicht, fächerübergreifend zu denken und Zusammenhänge zu verstehen. Drittens ist die Lehrerausbildung hierzulande schlecht. Sie müssen als guter Lehrer gut unterrichten können, aber Sie müssen über Unterricht relativ wenig wissen. Wir produzieren viel zu viel Wissen, wie es geht, statt reines Können, wie man es macht.

Also haben wir die falschen Leute?

Precht Der Beruf ist mittlerweile so dröge und formalisiert, dass oft nur die Leute davon angezogen werden, denen sonst nichts anderes einfällt. Und darum könnte man fünftens bis zur Hälfte für die Arbeit an Projekten Menschen aus dem Leben anstellen — den pensionierten Physiker, der aus der Welt seines Berufslebens erzählt. Das heißt: Wir müssen die Trennung von Leben und Schule aufheben. Die Schulen müssen sich verändern, weil sich die Welt um sie herum radikal gewandelt hat. Schulen spielen mit Blick auf den Wissenserwerb eine viel geringere Rolle, weil die Möglichkeit der Wissensaneignung mit dem Internet um ein Vielfaches gestiegen ist. Wenn ich will, kann ich mich heute in jedes Fachgebiet einarbeiten. Dazu brauchen wir die Schulen zunehmend nicht mehr.

(RP/hüls/csi)
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