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Rheinische Pioniere (10): Alice Schwarzer Die Feministin der Nation

Seit 40 Jahren gibt Alice Schwarzer den Ton in Frauenfragen an. Ihren Ruf hat die Journalistin mit Steuerhinterziehung zuletzt beschädigt.

Wer als Frau über Alice Schwarzer schreibt, bezieht Position. In jedem Prädikat, das man für Deutschlands bekannteste Feministin findet, schwingen Wertung und Einordnung mit. Wertung für ein Lebenswerk, das seit nunmehr 40 Jahren im gesellschaftspolitischen Bewusstsein präsent ist.

Ein sicher verdienstvolles Werk mit radikalen Thesen und Forderungen, die die Geschlechterordnung erschüttert und revolutioniert haben. Ein Werk, das zu jeder Zeit fast so viel Kritik wie Zustimmung hervorrief, seit Schwarzer im Juni 1971 in der Illustrierten "Stern" eine der spektakulärsten massenmedialen Aktionen der Bundesrepublik anzettelte, indem sie 374 Unterschriften von Frauen zusammentrug, die bekannten "Ich habe abgetrieben".

Auf der Titelseite waren viele dieser Frauen abgebildet, darunter prominente Schauspielerinnen wie Romy Schneider und Sabine Sinjen. Alice Schwarzer ist eine Instanz. Die 71-Jährige gilt laut "Cicero"-Ranking als führende einflussreiche deutsche Intellektuelle. Heute kennen sie 83 Prozent der Bevölkerung, 67 Prozent der von Allensbach befragten Menschen meinen, dass sie viel für die Frauen getan hat, obwohl sie sicher nicht genau benennen können, was es war.

Was ist es also, was Schwarzer bewegt hat? Und wie nachhaltig sind ihre fundamentalen Forderungen, die in ihrer Mehrheit aus den 1970er Jahren stammen? Während ihrer Frankreichaufenthalte als junge Frau — 1963 ging sie als Au Pair nach Paris — freundete sie sich mit Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre an. Von Beauvoir beeinflusst, die mit ihrem Buch "Das andere Geschlecht" einen Meilenstein der internationalen Frauenbewegung vorgelegt hatte, engagierte sich Schwarzer im "Mouvement pour la libération des femmes".

In der Wochenzeitung "Le Nouvel Observateur" fand sie das Vorbild für ihre nach Deutschland exportierte Aktion. 343 Frauen, darunter viele bekannte wie Cathérine Deneuve und De Beauvoir selbst, forderten die Legalisierung von Abtreibung und lösten eine öffentliche Debatte von ungeheurer Wucht aus. Mindestens so groß war die Wucht der Schwarzer-Aktion in Deutschland, auf die ihr erstes Buch folgte, das den Titel "Frauen gegen den § 218" trug. Die Aktion und das Buch haben Schwarzer bekannt gemacht und werden als Auslöser der Frauenbewegung gewertet, die von da an vor allem von Chef-Feministin Schwarzer vorangetrieben wurde. Fast noch größere Debatten löste die Autorin und Herausgeberin von insgesamt 46 Büchern mit ihrer Streitschrift "Der kleine Unterschied und seine großen Folgen" (1975) aus. "Sexualität ist der Angelpunkt der Frauenfrage", behauptete sie darin. Und dass Sexualität das Instrument der Unterdrückung von Frauen sei. In ihr lägen Unterwerfung, Schuldbewusstsein und Männerfixierung von Frauen verankert. Ohne Sex auf Augenhöhe könne es keine Emanzipation geben, hieß es.

In diesem Bestseller, der in zwölf Sprachen übersetzt worden ist, spricht Schwarzer Themen an, die bis dahin als absolutes Tabu galten. Sie lässt in den 17 im Buch aufgezeichneten Protokollen Frauen berichten, wie sie es mit der Sexualität halten, wie sich ihr Liebesleben gestaltet, wie zufrieden sie mit ihrem Sex sind und was ihre eigentlichen Träume sind. Intimes wurde erstmals öffentlich, große sexuelle Frustration detailliert ausgebreitet. Die darauf folgenden Erschütterungen der Liebes- und Sexualordnung waren enorm. Plötzlich lag Schwarzer mit in deutschen Ehebetten auf der Ritze. Viele Männer waren verunsichert, Frauen nicht minder.

Heute ist die verklemmte Zeit jener Jahre nur noch schwer vorstellbar. Dass man über Sexualität nicht öffentlich redete, nicht über Verhütung, schon gar nicht über weibliches Begehren, über Klitoris, Frigidität oder Orgasmusfähigkeit von Frauen. Niemals zuvor und wahrscheinlich auch niemals danach ist trotz Catherine Millet und Charlotte Roche so offen über Frauensachen geredet worden, über die Anatomie des weiblichen Körpers — und über die Lust. Zu Recht feierte man Alice Schwarzer damals als Entdeckerin und Förderin der weiblichen Lust. Dass ihre Thesen Steilvorlagen für Stammtischgespräche und Medienschelte boten, scheint naheliegend. "Schwanz-ab-Schwarzer" schimpften sie männliche Journalisten, und die "Bild"-Zeitung titelte gehässig "Die Hexe mit dem stechenden Blick".

Sie bot fortan mit nahezu jedem Wort, das sie öffentlich äußerte, Angriffspunkte. Aber Schwarzer hat ein dickes Fell. Im Fernsehen stritt sie erbittert 1975 mit Esther Vilar, die in ihrem Buch "Der dressierte Mann" überraschend die Unterdrückung des Mannes durch die Frau feststellte. Später attackierte sie Verona Feldbusch in einer Fernseh-Talkshow von Johannes B. Kerner. Die Zeitungen titelten "Brain trifft Body", die beiden Frauen hätten unterschiedlicher nicht sein können — das Weibchen und die Emanze. Schlagfertig waren sie beide. Da standen mit einem Mal zwei gegensätzliche Frauenentwürfe zur Diskussion.

Nach der Sendung schlug sich die Mehrheit der Befragten auf die Seite von Feldbusch, während Schwarzer vor einer "Feldbuschisierung" der Frauen warnte. Schwarzer mischt sich ein in gesellschaftliche Debatten und attackiert Menschen, die sie für Feinde der Emanzipation hält. 1993 war es Fotografiestar Helmut Newton. Seine erotischen Frauenbildnisse geißelte sie als sexistisch und faschistisch. In jüngster Zeit stritt sie mit der ehemaligen Familienministerin Kristina Schröder (CDU). Schröder hatte gegen Schwarzers feministische Positionen gewettert, woraufhin diese ihr die Eignung zur Ministerin absprach und sie als "hoffnungslosen Fall" bezeichnete. Auch mit Charlotte Roche, Autorin der Bestseller "Feuchtgebiete" und "Schoßgebete", hat sich Schwarzer angelegt. "Ich bin dein Über-Ich", schrieb sie in einem Blog an Roche, "du weißt schon, diese feministische Rachegöttin, die Seite an Seite mit deiner Mutter durch dein Buch geistert." Schwarzer bezeichnete Roches Bestseller als "Heimatschnulze" und warf ihr vor, die drastischen Sexszenen nur aus kommerziellem Kalkül geschrieben zu haben. Roche ihrerseits griff Schwarzer an: "Ich finde, es ist Zeit für neue, jüngere Feministinnen", sagte sie, "aber die werden immer weggebissen von unserer Spitze". Widerstandsgeist ist eine der Tugenden von Alice Schwarzer, die sich von Kind an durchs Leben kämpfen musste.

Sie wuchs in Wuppertal ohne Vater auf, ihre ledige Mutter übergab sie den Großeltern, die einen Tabakwarenladen betrieben. Der Großvater sei stets gut zu ihr gewesen, die Großmutter ein Vorbild, politisiert mit hohem Gerechtigkeitssinn. Als für ihr Leben prägend gibt sie den Widerstand ihrer Familie gegen den Nationalsozialismus an sowie die Solidarität mit den Opfern. Gemessen an ihrer Ausbildung — Volksschule, Handelsschule, kaufmännische Lehre — hat es Schwarzer im Leben weit gebracht.

Sie wurde Journalistin, studierte ohne Abitur in Paris. 1977 gründete sie als Herausgeberin und Chefredakteurin die feministisch geprägte, bundesweit erscheinende Monatszeitschrift "Emma". Aus dem Buch-Erfolg von "Der kleine Unterschied ..." finanzierte sie die Zeitschrift mit 250 000 D-Mark Gründungskapital. Über Geld sprach Schwarzer Anfang dieses Jahres erstmals, als sie wegen Steuerhinterziehung in die Schlagzeilen geriet. Der Fall hat sie trotz einer Nachzahlung in sechsstelliger Höhe Anerkennung gekostet, ebenso wie die Einlassung mit der "Bild"-Zeitung, für die sie Werbung machte und emotional über den Vergewaltigungsprozess gegen Jörg Kachelmann berichtete.

Vor allem alte Weggefährten empfanden ein Einlassen auf die Springer-Presse als Verrat. Dass Schwarzer das Blatt, das sie einst am ärgsten verleumdet hatte, nun bedient, kann man auch als Wendigkeit sehen. Sie ist eine massenkompatible Figur, die weiß, was sie wo unterbringt, so dass es ihr Ruhm und Geld beschert. Ihre Homepage (aliceschwarzer.de) ist stets Up to date: Kopftuchverbot und Pädophilie sind Themen, Waffenexporte nach Syrien, ganz oben steht das fragwürdige Angebot amerikanischer Firmen, die ihren Frauen anbieten, Eizellen einzufrieren. Heute, mit fast 72 Jahren, ist Alice Schwarzer nicht still geworden.

Sie hat ihre Themen nie aus dem Blick verloren, mischt sich zu tagesaktuellen Themen ein. Sie kämpft weiter gegen Unterdrückung jeder Art, gegen Pornografie und Prostitution, gegen Hierarchie und Festlegung von Rollen, für Gleichberechtigung und Menschenwürde, für selbstbestimmte Sexualität, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, für uneingeschränkte Chancengleichheit. Für ihr eigenes Leben hat sie einen beinahe zärtlichen Gegenentwurf zum öffentlichen Zerrbild geschneidert. Sie hat von ihrer Liebe zu dem Franzosen Bruno berichtet, später ihre Beziehung mit einer Frau eingeräumt. Sie hat es nicht beklagt, aber begründet, warum sie kinderlos geblieben ist: Dann wäre "Emma" nicht entstanden. Schwarzer ist eine Pionierin. Dass im Buchhandel derzeit nicht ein einziges Buch von ihr ausliegt, spricht nicht gegen sie. Dass ihre Bücher nicht mehr gebraucht werden, ist ein Indiz dafür, dass viele ihrer Forderungen längst gesellschaftliche Realität geworden sind. Kann eine These besser aufgehen?

(RP)
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