Remo Largo "Auswendiglernen macht nicht klüger"

Der Schweizer Erziehungsexperte findet, dass Schulen besser auf unterschiedliche Stärken und Schwächen von Schülern reagieren müssen. Sonst entließen sie Menschen, die sich als Versager fühlen und ihren Platz in der Gesellschaft nicht finden. Noten hält er für falsch.

Wir leben im Zeitalter des Burn-out. Viele Menschen haben das Gefühl, den Anforderungen nie zu genügen. Woran liegt das?

Largo In erster Linie wohl daran, dass viele Menschen, auch Kinder, fremdbestimmt leben. Ihre Umgebung verlangt immer mehr. Sie müssen leisten, ohne dass sie mitbestimmen könnten, wie sie ihre Aufgaben erledigen wollen. Ob sich jemand für das, was er tun soll, interessiert, ob es ihn überfordert, zählt heute nicht. Das beginnt schon in der Schule.

Gerade weil viele Eltern im Job so viel Druck erleben, wollen sie ihre Kinder darauf vorbereiten. Ist das der Grund für den Druck, der auch in vielen Familien herrscht?

Largo Ja, viele Eltern haben Existenzängste. Selbst wenn es ihnen noch gutgeht, fürchten sie die Zukunft. Die Arbeitslosenquote mag niedrig sein, aber sie trauen dem Wohlstand nicht. Das überträgt sich auf die Kinder. Die Eltern wollen vermeiden, dass ihre Kinder ein weniger gutes Leben haben werden als sie selbst, das führt zu Druck. Die Schule macht das mit. Das zieht sich dann durch bis in die berufliche Tätigkeit.

Sie entwickeln dagegen das "Fit-Prinzip", ein Plädoyer dafür, zu seinen individuellen Fähigkeiten zu stehen und sich ein gemäßes Leben aufzubauen. Wie kann das gelingen?

Largo Ich hätte gern ein deutsches Wort verwendet, aber der Begriff der "Passung" ist vielen Menschen nicht vertraut. Das Fit-Prinzip besagt, dass jeder Mensch mit seinen individuellen Begabungen das Bedürfnis hat, in Übereinstimmung mit seiner Umwelt zu leben. Je besser ihm das gelingt, desto größer sind sein Wohlbefinden und sein Selbstwertgefühl. Alle Eltern möchten, dass ihre Kinder ihre Fähigkeiten gut entwickeln und sich Wissen aneignen. Es kommt aber auch darauf an, wie das geschieht.

Was läuft bei diesem ,Wie' falsch?

Largo Oft werden Kinder daheim und in der Schule gezwungen, sich einen bestimmten Stoff anzueignen. Sie werden nicht gefragt, ob sie das interessiert. Sie müssen einfach ausführen. Kindgerechtes Lernen ist jedoch selbstbestimmtes Lernen. Nur so können sich die Kinder den Lernerfolg selbst zuschreiben. Sie machen die Erfahrung: Ich kann selbst lernen. Das ist extrem wichtig für ihr Selbstwertgefühl. Viele machen jedoch jeden Tag in der Schule die Erfahrung: Ich kann es nicht, ich schaff' es nicht. Die Eltern sind nicht zufrieden mit mir, die Lehrer schon gar nicht. Alle verlangen von mir etwas, das ich nicht leisten kann. Das ist extrem zerstörerisch für das Selbstwertgefühl. Wir brauchen aber junge Menschen, die die Schule mit dem Bewusstsein verlassen, dass sie in dieser Gesellschaft bestehen können. Dazu führt allein selbstbestimmtes Lernen und überwiegend Erfolg zu haben.

Was heißt das konkret für die Praxis in den Schulen?

Largo Es muss Freiraum geben für die Schüler, Inhalte selbst zu bestimmen. Und sie müssen ihren Fähigkeiten und ihrem Entwicklungsstand entsprechend lernen dürfen. In der Pisa-Studie sieht man, dass ein Sechstel der Kinder nach neun Schuljahren nur Viert- oder Fünftklässler-Niveau hat. Deutsch ist für sie ein absoluter Horror. Sie haben neun Jahre lang die Erfahrung gemacht: Ich bin ein Versager. Aus solchen Kindern werden dann auch Erwachsene, die sich nichts zutrauen. Das ist verheerend für sie, aber auch für die Gesellschaft.

Auf Stärken und Schwächen von Schülern individuell einzugehen, verlangt aber mehr Lehrpersonal. Daran scheitern alternative Lehrkonzepte dann oft in der Wirklichkeit.

Largo Genau. Wir sind also an der Frage: Wie viel ist der Gesellschaft die Bildung wert? Immer noch erscheint es Politikern sinnvoller, Geld für Dinge wie Bankenrettung und Verteidigung auszugeben. Dabei ist eine gute Bildung eine Grundvoraussetzung dafür, dass eine Gesellschaft und die Wirtschaft funktionieren können.

Ist es möglich, im bestehenden System auf die Voraussetzungen von Kindern besser einzugehen?

Largo Dafür müssen wir uns von vielem verabschieden, was wir selbst als Schüler verinnerlicht haben: Schulnoten und Hausaufgaben tragen nicht zum Lernerfolg bei. Auswendiglernen führt zu besseren Schulnoten, macht die Kinder aber nicht klüger. Der wichtigste Faktor überhaupt, der die Lernmotivation der Schüler bestärkt und am meisten zum Lernerfolg beiträgt, ist die Beziehungsqualität zwischen Lehrer und Schüler und eigenständige Lernerfahrungen. Dies haben die Auswertungen von Studien bestätigt, in denen mehr als 200 Millionen Schüler teilgenommen haben.

Auch Erwachsene ringen ja mit Versagensgefühlen. Wie können sie besser mit sich in Einklang kommen?

Largo Die meisten Menschen müssen heute einer Arbeit nachgehen, die ihnen nicht entspricht und sie nicht befriedigt. Beispielsweise Menschen, die sich handwerklich und körperlich betätigen möchten, aber in einem Büro arbeiten. Sie tun es für ihren Lebensunterhalt. Also ist die Frage, was sie außerhalb der Arbeit machen, in der Freizeit. Viele verbringen mehrere Stunden pro Tag damit, zu konsumieren und sich unterhalten zu lassen, etwa beim Fernsehen oder im Internet. Auch Kinder. Wir Menschen sind jedoch hochsoziale Wesen. Uns kann es nur gutgehen, wenn wir in tragfähigen Beziehungen mit vertrauten Menschen leben. Dieses Bewusstsein müssen wir zurückgewinnen. Daran mangelt es. Jeder Einzelne muss sich daher fragen, woher er soziale Anerkennung bezieht und was ihm das Gefühl gibt, geborgen zu sein. Die sozialen Medien können das nicht leisten, das sind Einbahnstraßen. Wir müssen vermehrt zwischenmenschliche Beziehungen pflegen, auf andere Menschen zugehen, Gemeinsamkeiten suchen, gemeinsame Erfahrungen machen. Das kann auf vielerlei Weise geschehen, etwa beim Kochen oder Wandern, beim Musizieren oder im Sport.

Das ist im digitalen Zeitalter ein Plädoyer für das analoge Leben?

Largo Analog - im Sinn von: selbstbestimmt Erfahrungen machen, die einem entsprechen. Wir sind nicht für irgendein Leben gemacht. Jeder Mensch kann und will sein eigenes Leben leben. Das ist der Grundgedanke des Fit-Prinzips.

DOROTHEE KRINGS FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Der Kinderarzt und Erziehungsforscher Remo Largo (73) hat sich in den Zürcher Langzeitstudien über Jahrzehnte mit der Entwicklung von Kindern beschäftigt und Standardwerke geschrieben wie "Babyjahre" oder "Kinderjahre". In seinem jüngsten Buch "Das passende Leben" resümiert er seine Erfahrungen aus 40 Jahren Forschung und denkt darüber nach, wie Menschen mit unterschiedlichen Begabungen äußere Erwartungen und ihre eigenen Bedürfnisse in Einklang bringen können.

(RP)
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