Berlin Bei Professor Sauer stimmt die Chemie

Berlin · Als Experte für Theoretische Chemie hat Angela Merkels Ehemann viel Anerkennung gefunden. Seine Spezialität sind Strukturmodelle.

Es könnte schwerfallen, die Forschung eines Mannes zu erklären, der als Professor für Theoretische Chemie internationale Anerkennung gefunden hat. Die wichtigsten Bestandteile seiner Arbeit bleiben den meisten Menschen fremd. Super-Computer, Höhere Mathematik, Quantenchemie, katalytische Prozesse? Wo soll man beginnen, wenn der Autor den Leser nicht damit locken will, dass es sich um Joachim Sauer handelt, den Mann der Bundeskanzlerin? Mit einem Lob von Sauers Kollegen und Konkurrenten. Sie formulieren das Besondere seiner Arbeit in zwei Sätzen. "Die Merkmale seiner Forschung waren stets höchste Qualität und grundlegende Bedeutung", schrieben Marek Sierka und Martin Quack zu Sauers 65. Geburtstag. Ihm sei es "auf eine beindruckende Weise gelungen, auf einem Gebiet, das von widersprüchlichen und bedeutungslosen Forschungsergebnissen geplagt war, richtungweisende Beiträge zu leisten".

Joachim Sauer, Professor an der Humboldt-Universität Berlin, hat neue Rechenverfahren etabliert, mit denen chemische Prozesse präzise beschrieben werden können, die schon lange bekannt, aber damals, in den 1990er Jahren, nur wenig verstanden waren. Die Industrie verwendet solche Prozesse schon seit Jahrzehnten im großtechnischen Maßstab. Sie nutzt die besonderen Eigenschaften der Oberfläche von Zeolithen: An ihr binden sich mehrere kleine Ausgangssubstanzen, die sich dann unter dem Einfluss des Zeoliths verknüpfen zu einer neuen, meist größeren, Substanz - dem gewünschten Produkt. Zeolithe fungieren in diesem Prozess als Katalysator, und Sauers quantenchemische Simulationen am Computer konnten aufklären, was dabei genau geschieht. Die aktiven Zentren dieser Katalysatoren seien oft so dünn gesät und ungeordnet, dass eine experimentelle Bestimmung schwierig oder gar unmöglich wäre, erläuterte Sauer.

Das Rüstzeug - die mathematischen Gleichungen - für diese Berechnungen haben andere Wissenschaftler schon viele Jahre früher bereitgestellt. Sie erklären, wie sich die Elektronen in den chemischen Bindungen verhalten und wie sich die einzelnen Atome anordnen werden. Aber das System erwies sich als zu komplex, als dass es von Computern berechnet werden konnte. Joachim Sauer fand einen Trick. Er kombinierte verschiedene Verfahren in einem Programm, der sogenannten quantenmechanisch-molekularmechanischen QM/MM-Hybridmethode. Damit kann der Rechenaufwand für den Computer deutlich reduziert werden, ohne dass es zu einem wesentlichen Verlust an Genauigkeit kommt, obwohl gleichzeitig die besondere Struktur der Oberfläche des Materials berücksichtigt wird. Damit wurde die spezielle Chemie, die an definierten Oberflächen abläuft, plötzlich für die theoretische Chemie zugänglich. Was Sauer für Zeolithe entwickelte, wurde von ihm und anderen Forscherteams schnell auf weitere Probleme übertragen.

Joachim Sauer vermag den Sinn seiner Arbeit selbst Schülern zu vermitteln. Er erzählt gern von James Watson und Francis Crick, die für die Entdeckung der berühmten Doppelhelix-Struktur der DNA den Nobelpreis bekamen. "Sie haben viele Strukturmodelle entworfen, zunächst mit Papier und Bleistift. Dann wurden mannshohe Metallmodelle in der Werkstatt gefertigt, wurde mit Lot und Metermaß die Position der Atome bestimmt und die resultierende Röntgenbeugung berechnet." Bis endlich die Struktur mit dem Ergebnis der Röntgenuntersuchung übereinstimmte. Solch ein Bau von Strukturmodellen sei bis heute ein unabdingbarer Teil der Chemie, erklärt Sauer, nur dass die Computer diese Aufgabe übernommen haben und die Position der Atome berechnen.

Ein wenig mehr hat sich schon verändert. Die theoretische Chemie wächst, sie stellt sich einem höheren Anspruch, weil Forscher wie Joachim Sauer die Methoden verbessert haben. "Von größtem Nutzen ist die Quantenchemie dort, wo die uns interessierenden Moleküle zu kurzlebig, instabil oder gefährlich für Experimente sind - oder erst in den Köpfen von Chemikern und Pharmazeuten existieren." Diesen Satz schrieb Sauer im Jahr 1998, als die Computer-Chemiker Walter Kohn und John Pople den Nobelpreis erhielten. Auch 2013 zeichnete das Komitee in Stockholm drei theoretische Chemiker aus. Mittlerweile klingt es noch ein bisschen selbstbewusster. Es gehe nicht mehr nur darum, ein Strukturmodell zu bauen, sondern direkte Strukturvorhersagen zu treffen und im Experiment zu bestätigen. Die theoretische Chemie könnte also bald die Erfahrung aus dem Labor überholen. Ungewöhnlich aus dem Mund eines Chemikers, wählt Sauer gern den Begriff der Evolution, die ein paar Schritte weiter gehe als das intelligente Design. Man muss sich das so vorstellen, dass chemisches Wissen und vielleicht gar der menschliche Geist an eine Grenze stoßen, an der Computerprogramme mit einem quasi selbst lernenden genetischen Algorithmus noch neue, stabile Strukturen finden. Sauer und andere haben so etwas berechnet und für Sonderfälle eine kleine Revolution der Chemie entdeckt, die damit aufräumt, dass gleiche Atome in einer Verbindung eine gleiche Umgebung bevorzugen.

"Fällt die Gesetzeskraft des Kollektivs weg, kann die Ungleichheit der Individuen die Stabilität eines kleinen Kollektivs erhöhen", so fasst Sauer diese Erkenntnis zusammen. An dieser Stelle merken die Besucher seiner Vorträge auf, die im Chemiker doch vor allem Angela Merkels Ehemann sehen - und endlich eine politische Aussage gefunden haben. Dabei haben Aluminiumoxid-Cluster in der Gasphase nichts mit einer real existierenden Gesellschaft zu tun.

Für viele ist Joachim Sauer "nur" ein Wissenschaftler, im Sinne des phantasiefreien Klischees eines weltfremden Professors, der nur Augen für seine Forschung hat und deshalb an der Seite seiner Frau, der Kanzlerin, die Öffentlichkeit meidet, sich nicht wohl fühle. Dabei ist es völlig falsch, Sauer als unpolitischen Menschen zu bezeichnen. Er traf jeden Tag für sich selbst eine respektable politische Entscheidung, denn er gehörte in der DDR zur Minderheit der international wahrgenommenen Wissenschaftler, die nicht in der SED waren und sich gegenüber dem Regime behaupteten. "Die Kunst war es, morgens noch in den Spiegel schauen zu können", sagt Sauer über diese Zeit heute. Nach dem Mauerfall hat er in mehreren Interviews deutlich gemacht, dass Wissenschaft in der DDR mehr behindert als gefördert wurde.

Sauer hat, nachdem er fast 20 Jahre unter diesen Umständen arbeiten musste, noch eine erstaunliche Kreativität entwickelt. Sein jüngstes Projekt ist praxisnah: die Berechnung von Strukturen von Wasser und Wasserstoffionen an Oberflächen. Seit 2007 koordiniert er einen Exzellenzcluster. Dem haben sich 50 Forschergruppen angeschlossen, die sich der Erforschung und Entwicklung von Katalysatoren verschrieben haben. Er überzieht verschiedene Trägermaterialien mit dünnen Schichten, untersucht deren Eigenschaften und lieferte Strukturmodelle. Diese Arbeiten haben schließlich zur Entdeckung eines metallgestützten, glasartigen ultradünnen Silikatfilms geführt, der oft als das dünnste Glas der Welt beschrieben wird. Auch sein Lieblingskind, die Zeolithe, konnte er in dieser besonderen Struktur herstellen.

"Die Arbeiten von Joachim Sauer haben eindrucksvoll gezeigt, dass oft nur eine enge Zusammenarbeit zwischen Theorie und Experiment die erfolgreiche Erforschung dieser Systeme ermöglicht", schreiben Marek Sierka (Uni Jena) und Martin Quack (ETH Zürich). So gesehen trägt Joachim Sauer dazu bei, dass der Begriff Theoretische Chemie einen neuen Inhalt bekommt.

(RP)
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