Berlin Deutschland im Akademisierungswahn?

Berlin · Die provokante These des Philosophen Julian Nida-Rümelin hat viele Gegner.

Viele der Schüler, die jetzt ihr Abitur machen, werden ab Herbst in Hörsälen deutscher Hochschulen sitzen. Weit weniger werden eine betriebliche Lehre beginnen. Darauf lassen auch die Trends des Berufsbildungsberichts 2015 schließen. Er weist einen Minusrekord bei den Ausbildungsverträgen aus. Für den Fachkräftemarkt kein gutes Zeichen, warnt die Wirtschaft, die für viele Lehrstellen gern Bewerber mit Abitur hätte.

Von einem "Akademisierungswahn" wollen aber die wenigsten reden - trotz der Rekord-Studentenzahl von 2,7 Millionen. Im Gegenteil: Viele Experten- von Wissenschaftlern über Gewerkschafter bis zu den Fachpolitikern - halten eine solche Zuspitzung für falsch. Sie warnen vor einer künstlichen Verknappung von Studienplätzen und vor einer "Systemkonkurrenz" zwischen Hochschul- und Berufsbildung. Und sie verweisen auf eine wachsende Durchlässigkeit beider Bereiche.

Die provokante These stammt vom Philosophen Julian Nida-Rümelin, dem zufolge jetzt eine langjährige "Propaganda" Wirkung zeigt: Das Abitur werde als Regelabschluss dargestellt, das Studium als Normalfall. "Die deutsche Bildungspolitik ist auf dem Holzweg: Die berufliche Bildung wird vernachlässigt." Mit kernigen Sätzen wie diesen eröffnete der einstige SPD-Kulturstaatsminister im Sommer 2014 eine bald immer hitzigere Debatte.

Nida-Rümelins dringliche Warnung: Laut Studien ist bis 2030 in Deutschland mit einer Lücke von mehr als vier Millionen nichtakademischen Fachkräften zu rechnen. Woher sollen die kommen, wenn bald jeder studiert und sich "keiner mehr die Finger schmutzig machen will"?

Besonders aufs Korn nahm Nida-Rümelin (60) die Bildungsexperten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) - weil sie Deutschland stets eine niedrige Akademikerquote vorgehalten hätten. Zuletzt besaßen hierzulande 28 Prozent der 25- bis 64-Jährigen einen Studienabschluss - im OECD-Schnitt 33 Prozent. Der Trend zu immer mehr Hochschulbildung verachte "das Handwerkliche, das Technische, aber auch das Soziale, das Ethische, das Ästhetische", sagte Nida-Rümelin, selbst Professor an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, kürzlich in einem Streitgespräch mit Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU).

Der "Akademisierungswahn" produziere "zu viele Bildungsverlierer und Gescheiterte", so sein Credo angesichts hoher Studienabbrecherquoten. 2008 hätten Bund und Länder formuliert, 40 Prozent pro Jahrgang sollten ein Studium aufnehmen. Nun seien es 57 Prozent.

Während sich Ende 2014 einige Wirtschaftsverbände mit dem Aufruf "Wir brauchen alle!" gegen die These von der "Überakademisierung" wandten, sieht der Deutsche Industrie- und Handelskammertag den Philosophen-Impuls positiver: "Herr Nida-Rümelin hat das Verdienst, eine Debatte mit angestoßen zu haben", sagt der stellvertretende Hauptgeschäftsführer Achim Dercks. Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) findet die Lage von Nida-Rümelin "in vielen Punkten" korrekt beschrieben, widerspricht aber seiner Analyse, wie es dazu kam und was die Politik zu tun habe. Sie relativiert die 57-Prozent-Quote der Studienanfänger. Rechne man die Ausländer heraus, komme man auf 46 Prozent. "Wir brauchen beides - akademische Ausbildung und duale Ausbildung. Und eine vernünftige Balance."

(DPA)
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