Studentenleben Die Systematik zählt

Am Anfang meines Studiums wurde mir ein Witz erzählt: "Ein Mann gibt einem Theologie- und einem Jura-Studenten ein Telefonbuch und sagt, sie sollen es auswendig lernen. Der Theologe fragt warum - der Jurist fragt, bis wann?" Konnte ich nicht drüber lachen, bei uns geht es um Systematik, wer anfängt, auswendig zu lernen, ist ohnehin verloren.

Mit dieser Einstellung ging ich auch in mein Erasmus-Jahr nach Frankreich. Erste Vorlesung im Europarecht, ich mit Karo-Block und Füller, meine französischen Kommilitonen um mich herum mit aufgeklapptem Laptop. Der Professor spricht die ersten Worte, überall hauen die Studenten auf ihre Tastaturen ein. Ich gucke verwundert bei meinem Nachbarn auf den Bildschirm, denn eigentlich hatte der Professor doch nur gesagt, dass Europarecht ein sehr komplexes Fach ist. Und tatsächlich hat mein Nachbar auch mitgetippt: "Europarecht ist ein sehr komplexes Fach." Diese Information wird ihn in der Klausur sicher retten. Jedes Wort wird ungefiltert mitgetippt, gedacht wird überhaupt nicht mehr. Am Ende ist der erfolgreichste Student der, der weiß, wie man mit allen zehn Fingern schreibt. Oder der sich durchsetzen kann, wenn es darum geht, mitten in der Vorlesung um die Steckdosen zu kämpfen, um den Laptop wieder aufzuladen. Alle stellen die Schrift möglichst klein, damit die Leute in der hinteren Reihe bloß nicht mitlesen und abschreiben können. Ich setze einen übertrieben deutschen Akzent auf, damit einer am Ende vielleicht mitleidig seine Unterlagen mit mir teilt. Hätte ich mein Studium hier begonnen, hätte ich über den Witz vom Anfang bestimmt lachen können. Bei uns Jura-Studenten in Deutschland wird der Witz im Übrigen anders erzählt. Da sind es ein Jura- und ein Medizinstudent. Der Jurist fragt, warum, und der Mediziner, bis wann.

EVA BÖNING

(RP)
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