Analyse Ist getrennter Unterricht sinnvoll?

Düsseldorf · Zwar gibt es immer weniger Schulen nur für Jungen oder Mädchen. Aber das Bewusstsein wächst, dass die Geschlechter verschiedene Ansprüche an den Unterricht mitbringen. Auch NRW ermuntert zur teilweisen Trennung.

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Foto: dpa, Michael Löwa

Diese Revolution war sogar der nordrhein-westfälischen Schulministerin einen kleinen Kommentar wert. Zum Sommer wird das katholische Mädchengymnasium "Beatae Mariae Virginis" in Essen, Sylvia Löhrmanns alte Schule, erstmals auch Jungen aufnehmen.

Nach 360 Jahren brechen damit die Augustiner-Chorfrauen, die das "BMV" betreiben, mit ihrer Tradition der Geschlechtertrennung. Als das Gymnasium das im vergangenen Frühjahr ankündigte, formulierte die Grünen-Politikerin klare Erwartungen: Nun müsse das "BMV" neben der guten Mädchen- auch eine gute Jungenförderung entwickeln.

Potsdam bekommt ein Jungengymnasium

Während in Essen mehr Gemeinsamkeit als zukunftsträchtig gilt, schlägt das Pendel in Potsdam in die andere Richtung. Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig entschied am Mittwoch, die Einrichtung eines reinen Jungengymnasiums in der brandenburgischen Landeshauptstadt verstoße nicht gegen das Grundgesetz, solange auch dort die "Verinnerlichung der Gleichberechtigung der Geschlechter" als Unterrichtsziel verfolgt werde.

Für die Errichtung der Schule hatte die Kölner "Fördergemeinschaft für Schulen in freier Trägerschaft" geklagt, die der katholischen Laienorganisation Opus Dei nahesteht und in Jülich bereits ein Mädchengymnasium betreibt; das Land hatte die Gründung abgelehnt, weil sich Gleichberechtigung nur in gemischtem Unterricht vermitteln lasse.

Der Fall ist nicht nur spannend, weil in ihm das legendenumrankte Opus Dei eine Rolle spielt — Bestsellerautor Dan Brown und Hollywood lassen grüßen. Der Rechtsstreit lenkt auch das Augenmerk auf eine bildungspolitische Debatte, die schon mehr als einmal als erledigt galt: Sollen Jungen und Mädchen gemeinsam lernen?

Koedukation heißt der Fachausdruck — im Gegensatz zur Monoedukation, der Trennung in Mädchen- und Jungenschulen. Die 60er und 70er Jahren waren die Hochzeit des Wandels hin zur Koedukation; inzwischen gibt es in Nordrhein-Westfalen nur noch 27 reine Mädchen- und 14 Jungenschulen.

"Das Thema ist nicht tot"

Kaum ein Prozent der Schüler im Land besucht sie. Vor zehn Jahren waren es noch sechs Mädchen- und sieben Jungenschulen mehr. Der endgültige Triumph der Koedukation ist nur noch eine Frage der Zeit — diesen Schluss legen zumindest die nackten Zahlen nahe.

"Dennoch ist das Thema Geschlechtergerechtigkeit in der Schule nicht tot", sagt Olaf Köller, Bildungsforscher an der Uni Kiel: "Es ist sogar mit den Pisa-Studien noch mehr in die Öffentlichkeit gerückt." 2009 erzielten die Jungen an deutschen Schulen in Mathematik und Naturwissenschaften knapp bessere, im Lesen aber weit schlechtere Ergebnisse als die Mädchen (siehe Info-Box).

Die Wirkung dieser Befunde beschreibt Köller so: "Bisher hat man sich nur gefragt, was man für die Mädchen tun kann. Jetzt fragt man sich auch, was wohl den Jungen fehlt." Eine "Redramatisierung von Bildung und Geschlecht" beobachtet sogar die Soziologin Waltraud Cornelißen vom Deutschen Jugendinstitut in München: "Jungen werden seltener als Mädchen vorzeitig eingeschult und häufiger zurückgestellt, Jungen bleiben häufiger sitzen, Jungen besuchen häufiger eine Sonderschule."

"Harte Macker lesen nicht gern"

Was das alles mit gemeinsamem Unterricht von Mädchen und Jungen zu tun hat, darüber herrscht freilich Uneinigkeit. Cornelißen etwa verweist auf die weiterhin schlechteren Karrierechancen für Frauen — Koedukation führe hier nur zu einer Annäherung. Und Köller betont: "Das Problem der Jungen entsteht nicht durch die Koedukation, sondern durch hartnäckige Stereotype. Zum harten Macker passt es eben nicht, dass er gerne liest."

Er erwartet sich von der neuen Debatte um den kleinen Unterschied weniger eine Renaissance der Geschlechtertrennung, sondern eher Anstöße für mehr Bildungsgerechtigkeit im Schulsystem insgesamt.

Andere Experten gehen weiter. "Die koedukative Idee steht hin und wieder im Widerspruch zur Erkenntnis, dass reine Mädchen- oder Jungenschulen auch Vorzüge haben", sagt der Bielefelder Bildungsforscher Rainer Dollase. Zwar gebe es einen Trend weg von rein monoedukativen Schulen — "das ist aber vor allem der sinkenden Schülerzahl geschuldet. Die Schulen müssen Jungen aufnehmen, um genug Schüler zu behalten."

Gleichzeitig versuchten viele Schulen, "über getrennten Unterricht in bestimmten Fächern zumindest einen Teil des alten Systems zu bewahren — auch weil sie merken, dass es bei den Eltern eine starke Präferenz für reine Mädchen- oder Jungenschulen gibt". Teilweise Trennung: ein Mittelweg aus Ko- und Monoedukation. Zahlen dazu werden in Nordrhein-Westfalen nicht erhoben, denn die Entscheidung liegt bei den Schulen selbst.

Zugleich wächst das Bewusstsein dafür, dass Mädchen andere Ansprüche mitbringen als Jungen. Dollase, der selbst dazu geforscht hat, fasst zusammen: "Jungen und Mädchen kommen in getrenntem Unterricht zwar ungefähr gleich schnell voran. Aber Jungen stören sich weniger an Leistungsunterschieden als Mädchen, sind insgesamt deutlich unruhiger, kommen schneller zur Sache und ziehen den Frontalunterricht vor. Mädchen tendieren eher zu 'modernen' Formen wie Gruppen- und Projektarbeit."

Getrennter Unterricht in manchen Fächern

Auch NRW wirbt für die kleine Lösung. "Die Qualität von Schule muss sich auch an der Antwort auf die Frage messen lassen, was sie leistet zur Förderung der Chancengleichheit der Geschlechter", heißt es in einer Handreichung des Schulministeriums. Eine komplette Trennung sei zwar nicht erforderlich, sagte Löhrmann anlässlich der Entscheidung ihrer alten Schule, sich für Jungen zu öffnen.

Aber: "Es kommt darauf an, dass wir dem unterschiedlichen Zugang von Jungen und Mädchen zum Lernen gerecht werden." Dazu könne getrennter Unterricht in manchen Fächern sinnvoll sein — Mathematik, Informatik, Chemie zum Beispiel. Das könne aber auch an einzelnen Tischen oder Computern erfolgen statt gleich durchgehend.

Übrigens hat man sich auch in Essen bei aller Bereitschaft zur Revolution für den Kompromiss entschieden: Im Sommer kommen die Jungen — aber eine reine Mädchenklasse wird es fürs Erste trotzdem weiter geben. Die Zeit des "Ganz oder gar nicht" scheint vorbei zu sein. Auch in Sachen Koedukation.

(RP/csr/rm)
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