Bildung Vom Pisa-Schock zur Flüchtlingsklasse

Düsseldorf · Deutschlands Schüler zeigen bessere Leistungen als vor 15 Jahren. Die schnelle Integration Hunderttausender wird die große Nagelprobe.

Den Nikolaustag 2016 darf man sich schon rot im Kalender anstreichen - dann gibt's Süßes oder die Gerte. Nicht von Knecht Ruprecht, aber von der Industrieländer-Organisation OECD. Am 6. Dezember ist wieder Pisa-Tag; dann wird das Ergebnis der sechsten Runde der internationalen Schul-Leistungstests vorgestellt. Vor 15 Jahren, in Runde eins, war das ein Schock für Deutschland: auf allen drei Feldern (Mathematik, Naturwissenschaften, Lesen) in der unteren Tabellenhälfte der Teilnehmerstaaten - ein Desaster. Und heute?

Der Befund Es geht aufwärts, wenn auch langsam. Unsere Pisa-Ergebnisse haben sich kontinuierlich verbessert, am stärksten in Naturwissenschaften: um den Lernfortschritt eines Jahres. Deutschland spielt heute im oberen Mittelfeld, jedoch weiter mit riesigem Abstand vor allem zu den Asiaten. In Naturwissenschaften entspricht der Unterschied zu den Chinesen in Shanghai drei Schuljahren.

DieWirkung Nicht nur Pisa, sondern auch Vorläufer wie die Mathe-Studie Timss 1995 haben unseren Blick auf die Bildung verändert. "Nach 20 Jahren haben wir damals wieder begonnen, darüber nachzudenken, was unser Schulsystem für die Kinder und Jugendlichen bringt", sagt der Bildungsforscher Eckhard Klieme vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung: "Uns fehlte das Wissen, was wirklich in den Schulen passiert." Erst der Pisa-Schock machte Leistung zum entscheidenden Kriterium für gute Schulpolitik. Das zeigt die Flut an Rankings, Tests, Studien und Studien über Studien, die seither über uns gekommen sind. Mancher internationale Vergleich erzeugt schon wieder Überdruss. Schüler würden auf die Tests trainiert, wenden Kritiker ein, auf abfragbares Wissen statt Kreativität und eigene Ideen. Dennoch: Zentralabi, Ganztagsausbau, Vergleichsarbeiten, bundesweite Bildungsstandards der Kultusminister - all das wäre ohne Pisa nie oder viel später gekommen. Und dass der in Fernost praktizierte Drill eher ein abschreckendes Beispiel ist - auch diesen Konsens hat Pisa gefestigt.

Die Baustellen Deutschland hat noch viel Arbeit vor sich; das bestätigte erst diese Woche eine Pisa-Folgestudie. So ist der Anteil der Leistungsschwachen noch erschreckend hoch - zwar liegt ihr Anteil unter dem OECD-Schnitt, aber 18 Prozent der 15-Jährigen hierzulande erreichen in Mathe nicht einmal die zweite Kompetenzstufe. Die OECD definiert sie als das Niveau, "das nötig ist, um voll an der modernen Gesellschaft teilzuhaben". In Naturwissenschaften ist die Quote der Leistungsschwachen seit 2006 nicht mehr gesunken, in Mathe stagniert dagegen der Anteil der Spitzengruppe. Mehr frühkindliche Bildung sei ein Rezept dagegen, predigt die OECD, mehr Ganztagsschulen, bessere Lehrerbildung. Mehr Lernzeit statt bloßer Betreuung im Ganztag, fügt Bildungsforscher Klieme hinzu.

Das andere große Manko heißt Bildungsgerechtigkeit - die Chancen auf Schulerfolg hängen nach wie vor stark vom Elternhaus ab. Als "sozioökonomisch benachteiligt" gilt bei Pisa, wessen Elternhaus zum Beispiel ein geringes Bildungsniveau und geringen Wohlstand aufweist. Bessergestellte Schüler sind in ihren Leistungen den schlechtergestellten um mehr als ein Jahr voraus, und die Ungleichheit ist größer als im OECD-Schnitt. Schüler mit Migrationshintergrund liegen in Mathe knapp zwei Schuljahre zurück - von 2003 bis 2012 haben sie allerdings fast ein Jahr aufgeholt.

"Unsere größte Baustelle", sagt Bildungsforscher Klieme, "ist, auch wenn das abgegriffen klingt, die individuelle Förderung." Man wisse noch zu wenig, wie sie überhaupt effektiv zu bewerkstelligen sei. Viele "populäre Methoden", etwa Gruppenarbeit, steigerten zwar Motivation und Lernfreude, "aber noch nicht notwendigerweise das Verständnis für die Lerninhalte".

Die Flüchtlinge Angesichts dieser Gerechtigkeitslücke könnte einem angst und bange werden vor der Aufgabe, Hunderttausende Flüchtlingskinder zu integrieren. Pisa-Gesamtkoordinator Andreas Schleicher sieht das denn auch als entscheidende Bewährungsprobe für das deutsche Schulsystem. Zentral ist (nicht nur) für ihn, wenig überraschend, die Sprache: "Die Sprache des Ziellandes zu vermitteln - vor allem das muss geleistet werden, in relativ kurzer Zeit." Schleicher sieht deshalb die speziellen Flüchtlingsklassen, die etwa in NRW oft am Anfang stehen, skeptisch und fordert schnelle Eingliederung in den Regelbetrieb - was freilich Entsetzen bei vielen Lehrern auslöst, die sich damit überfordert fühlen.

Mehr Ressourcen also, vor allem gut ausgebildete Lehrer? Ja, sagt auch Eckhard Klieme. Die Erfahrungen stimmen ihn optimistisch: "Wir haben viel erreicht." Deutschland habe die sozialen Unterschiede verringert. "Mit Blick auf die Integration der Flüchtlinge würde ich deshalb sagen: Wir schaffen das."

(fvo)
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