Blick in die Geschichte Bis 1893 hatte jeder Ort seine eigene Zeit

Düsseldorf · Die Umstellung von Sommer- auf Winterzeit ist Anlass für einen Rückblick: In Deutschland gibt es erst seit 120 Jahren eine einheitliche Zeitmessung. Zuvor lebten die Bürger jeder Stadt jeweils nach ihrer eigenen Zeit.

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Foto: Grafik RP

Wer über die Umstellung von Sommer- auf Winterzeit klagt, ahnt gar nicht, wie leicht wir es heute haben. Denn bis zum Ende des 19. Jahrhunderts tickten die Uhren in jedem größeren Ort des Deutschen Reichs buchstäblich anders. Mittag war immer dann, wenn die Sonne am höchsten stand. Damit das auch jeder mitbekam, läuteten die Kirchturmglocken — und lange donnerten auch Kanonen. "Wenn die Heidelberger Kanone abgefeuert wurde, hat man das im ganzen Schwarzwald gehört", sagt Eduard Saluz, der Direktor des Deutschen Uhrenmuseums in Furtwangen.

Jede längere Eisenbahnfahrt war eine kleine Zeitreise. Die uns unlogisch und unpraktisch erscheinende, von Ort zu Ort unterschiedliche Zeitmessung war im Übrigen nicht ungenau — im Gegenteil. An den verschiedenen Orten des Deutschen Reiches gingen die Uhren korrekt — nur notwendigerweise jeweils ein wenig anders. Dass Otto von Bismarck den Flickenteppich der deutschen Kleinstaaten schon 1871 im Deutschen Reich vereinigt hatte, hatte nämlich längst nicht sofort eine Vereinheitlichung der Zeitrechnung nach sich gezogen.

Nur in Preußen richtete sich der gesamte Eisenbahnverkehr schon seit 1848 nach der Berliner Zeit. Im Alltag aber richtete man sich in Düsseldorf oder Emmerich weiter nach der Zeit, die die eigene Kirchturmuhr anzeigte. In den anderen, kleineren Herzogtümern orientierte man sich an der Ortszeit, die am Sitz des Landesfürsten galt.

Als am 7. Dezember 1835 die erste Bahn die Strecke Nürnberg-Fürth befuhr, gab es noch keine Notwendigkeit für eine Vereinheitlichung der Zeitmessung. Kritisch wurde es allerdings, als die Schienenstränge mehrere Kleinstaaten miteinander verbanden — und sich pro Stunde Fahrt in ost-westlicher Richtung in einem Schnellzug vier Minuten Zeitunterschied ergaben. Dabei richteten die großen Bahngesellschaften ihre Fahrpläne an der auf der Hauptstation gültigen Uhrzeit aus. So wurden statt der Kirchturmuhren die Bahnhofsuhren zum gültigen Maßstab — und die Vereinheitlichung der Zeit verlief schrittweise.

Im Deutschen Reich gabe es um 1891 "nur" noch fünf verschiedene "Eisenbahnzeiten", weiß man im DB Museum. In den USA waren es zwischenzeitlich sogar bis zu 71 verschiedene. Hinzu kamen die jeweiligen Ortszeiten, auf denen die Städte bestanden. Deshalb standen hier wie da an vielen Bahnsteigen mehrere Uhren — eine zeigte die Zeit am Bahnhof, andere die, mit denen die Bahngesellschaften rechneten.

Dieses Chaos konnte nicht lange gutgehen, resümiert Soziologe Christian Thiel: "Zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Gesellschaften immer komplexer. Alle Bereiche des Lebens wurden zunehmend ökonomisiert. Auch mit der Zeit selbst musste man rechnen können — und vor allem musste sie für alle gültig sein." 1884 wurden in Washington die noch heute gültigen Zeitzonen geschaffen. Neun Jahre später fiel die Rechnerei mit der per Gesetz befohlenen Vereinheitlichung der Zeit für alle im deutschen Reich weg — und auch die Verwirrung darüber, dass ein von Ost nach West geschicktes Telegramm früher ankam, als es abgeschickt wurde. Am 1. April 1893 trat ein von Kaiser Wilhelm unterzeichnetes Gesetz in Kraft, mit dem die "mittlere Sonnenzeit des fünfzehnten Längengrades östlich von Greenwich" im gesamten Deutschen Reich zur einzig gültigen Uhrzeit bestimmt wurde — heute ist sie als Mitteleuropäische Zeit bekannt

Seit dem 1. Januar 1925 gibt es schließlich eine "Weltzeit". Wenn es im Observatorium von Greenwich bei London 12 Uhr schlägt, ist "Weltmittag". Den ultimativen mittäglichen Kanonenschuss sparen sich die Engländer allerdings.

(tojo)
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