Cannes Cannes im Endspurt – zwischen Liebe und Martyrium

Cannes · Mit der epischen Liebesgeschichte "La Vie d'Adèle" schiebt sich Frankreich unter die Favoriten des Filmfestivals. Buhs für den einzigen deutschen Film an der Croisette.

Wer die Aufregung und Bewunderung erlebt, die in der Männerwelt des Wettbewerbs von Cannes die lesbische Liebesgeschichte "La Vie d'Adèle", inszeniert vom Tunesier Abdellatif Kechiche, mag sich an Venedig von 2005 erinnern. Da zeigte Ang Lee seinen Western "Brokeback Mountain" und gewann hochverdient den Goldenen Löwen, denn eine solche Selbstverständlichkeit in der Darstellung gleichgeschlechtlicher Liebe hatte das Mainstream-Kino nie gesehen. Ein Klassiker war geboren. Nun lässt sich ein solches Glücksgefühl noch einmal wiederholen.

Nach der Comic-Vorlage "Blue Angel" von Julie Maroh erzählt der für seine kunstvolle Organisation von Filmzeit berühmte Regisseur die Amour fou der 15-jährigen Schülerin Adèle und einer etwas älteren Kunststudentin. Und lässt dabei drei Kinostunden wie im Fluge vergehen. Die expliziten Sexszenen fügen sich organisch in den emotionalen Fluss dieses großen Liebesfilms. Und im gemeinsamen Verzehren von Spaghetti Bolognese können es die Liebenden sogar mit "Susi und Strolch" aufnehmen.

In der Schlussphase vor der Preisgala zeigte sich der 66. "Cannes"-Jahrgang auf hohem Niveau. Noch immer verteidigt Asghar Farhadis Beziehungsdrama "Le passé" in der geradezu magischen Eleganz seiner Erzählkunst die Favoritenrolle – auch wenn "Adèle" ihm auf den Fersen ist. Aber es gibt Konkurrenz: Wenn man die Chancen eines Beitrags an der Nähe zu den Vorlieben des Jurypräsidenten misst, dann hätte der Amerikaner Alexander Payne schon gewonnen. Seine Vater-Sohn-Geschichte "Nebraska" ist ein klassisches Stück "Americana", stilvoll in Schwarzweiß gehalten und in den Nebenrollen voll mit verdienten Veteranen des US-Kinos.

Bruce Dern spielt einen alkoholkranken Rentner, der sich auf einer langen Autofahrt mit seinem vernachlässigten Sohn zu arrangieren lernt. Der Millionenpreis in einem Gewinnspiel, dessen sich der alte Mann sicher wähnt, ist nur der Anlass, nicht das Ziel der Reise von Montana nach Nebraska. Mit leichter Hand hat Payne zur Offenheit seiner Reiseerzählung "Sideways" zurückgefunden. Und zugleich ein "Slacker Movie" für Rentner geschaffen – doch einer der Meister der mit diesem Begriff umschriebenen Verlierer-Geschichten im US-Kino wird seinen Beitrag auch noch zeigen: Jim Jarmuschs (dank Unterstützung der Düsseldorfer Film- und Medienstiftung in NRW entstandener) Beitrag "Only Lovers Left Alive" steht noch aus. Und wo ist das eigentliche deutsche Kino?

Der einzige deutsche Beitrag hatte einen großen Auftritt: Nahezu das ganze Team von "Tore tanzt" hatte Debütregisseurin Katrin Gebbe vor Beginn der beehrten Premiere auf die Bühne. Die Premiere von "Tore tanzt", der Opfergeschichte eines radikalen jungen Christen, endete auch mit dem größten Buhkonzert, das diese Festivalsektion diesmal erlebt hat, was wiederum einzelne Fürsprecher zu Gegenrufen animierte. Man kann diesen Zwiespalt nicht allein mit dem unverstellten Handkamera-Naturalismus erklären, der das Publikum für das selbstgewählte Martyrium eines etwa Zwanzigjährigen gewissermaßen in Sippenhaft nimmt.

Denn anders als etwa bei den Filmen eines Lars von Trier, dessen "Breaking the Waves" und "Dogville" Gebbe sichtlich inspirierten, bleibt nach dem leidvollen Zuschauen ein höherer Erkenntnisgewinn aus.

(RP)
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