Interview mit dem Berliner Kardinal Woelki "Christ sein heißt revolutionär sein"

Berlin · Für den Berliner Kardinal ist das Evangelium politisch, nicht nur frommes Gedankenkonstrukt: Ungehemmter Kapitalismus bringt Tod.

 Rainer Maria Kardinal Woelki sagt über Papst Bendeikt XVI: "Sein Erbe ist immens".

Rainer Maria Kardinal Woelki sagt über Papst Bendeikt XVI: "Sein Erbe ist immens".

Foto: Michael Kappeler

Ist mein Eindruck richtig, dass unser deutscher Papst Benedikt XVI. schon etwas in Vergessenheit geraten ist? Wäre das nicht ungerecht?

Woelki Völlig ungerecht. Sein Erbe ist immens — ein Schatz an geistigen und geistlichen Gütern. Wir werden Jahrzehnte brauchen, um diesen Schatz heben zu können. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Wir hatten im November den Vorhof der Völker in Berlin zu Gast. Ohne Benedikt — auf dessen Initiative dieser Vorhof ja zurückgeht — mit seinen grundlegenden Überlegungen besonders zum Verhältnis von Glaube und Vernunft wäre ein solcher Dialog mit den Nicht-Glaubenden in unseren Tagen nicht möglich gewesen.

Mich erinnert die Begeisterung für Papst Franziskus an den Jubel 2005/2006 für Benedikt XVI. Sie auch? Zeigt es nicht auch, wie schnell Euphorie verdunsten kann?

Woelki Es ist etwas anderes, was die Menschen begeistert: Man strömte nach Rom, um Benedikt zu hören. Seine Ansprachen zeugten von einer ungeheuren spirituellen und intellektuellen Tiefe. Bei Franziskus begeistert vor allem seine offene, unmittelbare, den Menschen zugewandte Herzlichkeit sowie die Anschaulichkeit und Direktheit, mit der er deren Alltagserfahrungen anzusprechen vermag. Weil er diese dann auch noch geistlich zu deuten weiß, fühlen sich Menschen von ihm in ihrer Tiefe verstanden und angesprochen.

Wird Papst Franziskus weltweit zu sehr mit allerlei Hoffnungen überfrachtet? Eine Zeitung in Berlin nannte den 77-jährigen Argentinier bereits ahnungsvoll den "Gorbatschow des Vatikans".

Woelki Der Papst ist stets etwas Besonderes, weil seine Botschaft ohne Alternative ist, weil sie als Frohe Botschaft von Gott selbst stammt. Wenn diese Botschaft gelebt wird, ist sie revolutionär.

Hat Franziskus das Potenzial zum Umstürzler, zum Revolutionär?

Woelki Christsein heißt revolutionär sein. Etwa der Bergpredigt Jesu entsprechend leben zu wollen, ist revolutionär und radikal. Denn damit verbunden ist eine Umdeutung aller Werte, die heute in dieser Welt hochgehalten werden. Franziskus spricht das Wesentliche des Evangeliums markant aus, er bringt es auf den Punkt, in einer einfachen, klaren und direkten Sprache. So verstehen ihn auch die "normalen" Menschen.

Viele Gläubige haben Angst, dem Papst könnte etwas zustoßen, weil er sich so nahbar in der Öffentlichkeit bewegt und sich mit seiner Offenheit auch Gegner, gar Feinde schafft.

Woelki Franziskus sagt: Ich bin Hirte, ich muss unter die Menschen gehen, ihnen nahe, berührbar sein. Er weiß sich — davon bin ich zutiefst überzeugt — ganz in Gott geborgen. Deshalb hat der Papst selbst offenbar keine Angst, dass ihm etwas passieren könnte.

Könnte man nach neun Monaten Franziskus zwischenbilanzieren: Ein großer Kommunikator, aber einer, der zu viel auf einmal will und dadurch auch Verwirrung stiftet?

Woelki Ich werde dem Heiligen Vater nicht vorschreiben, wie er sein Amt zu führen hat. Wie ich ihn erlebe, versucht er zuallererst, die Freude am Evangelium zu transportieren und den Menschen deshalb zu sagen, dass Gott — mehr noch als gerecht — vor allem barmherzig ist. Das tut uns allen gut, ist doch unser aller Leben von zahlreichen Brüchen gezeichnet.

Läuft der Papst bald Gefahr, dass man ihm vorhält, auf dieselbe Weinflasche mit demselben Wein bloß ansprechendere Etiketten zu kleben?

Woelki Papst Franziskus betreibt keinen Etikettenschwindel! Er hat gerade zur Beteiligung an der außerordentlichen Bischofssynode zu Fragen der Familie eingeladen. Warten wir doch das mal ab.

Erwarten Sie dann Änderungen zum Thema Sakramentenempfang für wiederverheiratete Geschiedene? Müssten die deutschen Bischöfe nicht endlich mal in Rom vorpreschen? Vielleicht rennen sie ja bei Franziskus offene vatikanische Türen ein?

Woelki Wiederverheiratete Geschiedene gibt es in der gesamten Weltkirche. Deshalb kann diese Frage auch nur weltkirchlich angegangen werden. Das göttliche Gebot Jesu von der Unauflöslichkeit der sakramentalen Ehe muss dabei weiterhin am Anfang unserer Überlegungen stehen. Darüber kann sich weder ein Papst noch eine Synode einfach hinwegsetzen. Franziskus hat jedoch — wie sein Vorgänger auch — die damit verbundenen menschlichen Nöte verstanden. Ich setze darauf, dass wir bei der Synode im Oktober 2014 in dieser Frage, die uns deutsche Bischöfe schon zwei Jahrzehnte bewegt, zu einer Entscheidung kommen, die beides berücksichtigt: Das Ja zur Unauflöslichkeit der Ehe, aber auch eine vom Evangelium her verantwortbare Lösung für die Betroffenen.

Geht Ihnen, wenn der Südamerikaner Franziskus die arme Kirche will und sie gegen die reiche setzt, auch durch den Kopf, dass die reiche Kirche in Deutschland (Stichwort: Adveniat-Kollekte) der Kirche Lateinamerikas vieles finanziert hat?

Woelki Unsere deutschen Katholiken haben mit ihren vielen Hilfswerken ungeheuer viel Gutes getan, nicht nur für die Kirche Lateinamerikas, sondern auch für die Kirchen Asiens und Afrikas. Darauf können wir als vergleichsweise wohlhabende deutsche Kirche durchaus verweisen. Es kommt entscheidend darauf an, wofür man das Geld verwendet.

Tut die Kirche als Spezialistin für die letzten Fragen gut daran, sich oft zu vorletzten Fragen, also politischen Themen wie zuletzt der Finanz - oder Energiepolitik zu äußern?

Woelki Das Evangelium ist politisch und nicht nur ein frommes Gedankenkonstrukt. Es muss immer auch in den Alltag und somit auf eine bestimmte gesellschaftspolitische Lage hin übertragen werden.

Benötigen die Menschen denn nicht dringender eine Glaubens-Injektion als eine weitere Stimme zu Politischem?

Woelki Indem die Kirche Gott lebendig hält und dem Menschen sagt, dass er kein Zufallsprodukt ist und als Gottes Ebenbild Würde besitzt, kann sie den Menschen nicht bloß aufs Jenseits vertrösten. Sie muss, wie das Franziskus jetzt getan hat, beispielsweise einen ungehemmten Kapitalismus geißeln. Er stürzt den Menschen nämlich in den Tod. Die Kirche muss die Würde des Menschen verteidigen, sich auf die Seite der Armen stellen.

Eine Zeitschrift hat Sie den "deutschen Franziskus" genannt. Einverstanden?

Woelki Ich mag diese Etiketten nicht, auch wenn sie noch so ehrenvoll gemeint sind. Ich stehe mit Papst Franziskus und allen anderen Christen in der Nachfolge Christi. Und das gelingt mir mal mehr und mal weniger.

Gelingt Ihnen das wichtige Projekt, die renovierungsbedürftige Hedwigs-Kathedrale in Berlin-Mitte zu einem würdigen Gotteshaus zu machen?

Woelki Die St. Hedwigs-Kathedrale ist ein würdiges Gotteshaus, auf das wir zu Recht schon jetzt stolz sein können. Die einzigartige Kuppelkonstruktion verleiht ihr überregionale Bedeutung. Außerdem steht sie wie kein anderes Bauwerk für die wechselvolle Geschichte unseres jungen Bistums: Bistumsgründung, Kriegszerstörung, Wiederaufbau, Ort der Freiheit und Einheit der katholischen Christen in der DDR, aber auch die neue Bedeutung nach der Wiedervereinigung und dem Hauptstadtbeschluss — für all das steht unsere Kathedrale.

Das Gotteshaus muss renoviert werden, und dafür fehlt Geld, oder?

Woelki Allerdings muss jetzt nach 50 Jahren im Innenraum einiges getan werden. Unserem Bistum allein kann das nicht gelingen. Für eine mögliche Umgestaltung haben wir einen Architekten-Wettbewerb begonnen, für die Finanzierung sind wir auf großzügige Spenden angewiesen. Schon der Bau der St. Hedwigs-Kirche vor mehr als 250 Jahren war etwa nur durch eine Kollekte in allen deutschen Landen möglich. Wer mir also zu Weihnachten eine Freude machen möchte ... Ich hoffe auf großzügige Menschen, denen die zentrale katholische Kirche in der deutschen Hauptstadt ebenso am Herzen liegt wie mir. Wer sich informieren möchte: www.erzbistumberlin.de/kathedrale

Reinhold Michels führte das Interview.

(RP)
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