Phänomen Der einsamste Wal der Welt

Seit einem Vierteljahrhundert durchstreift ein Wal den Pazifik, völlig allein. Weil "52" anders singt als alle anderen, antwortet ihm niemand. Nun soll ihn eine Expedition aufspüren.

 Niemand hat den Wal je gesehen, der anders singt als alle anderen. Sein Kopf mag völlig anders aussehen als in der Fantasie unseres Illustrators. Der Gesichtsausdruck dürfte aber treffend sein. Leider.

Niemand hat den Wal je gesehen, der anders singt als alle anderen. Sein Kopf mag völlig anders aussehen als in der Fantasie unseres Illustrators. Der Gesichtsausdruck dürfte aber treffend sein. Leider.

Foto: Phil Ninh

Das Schlimmste ist nicht das Alleinsein. Das Schlimmste ist die Einsamkeit in einer Menge. Ignoriert zu werden von jenen, zu denen man gehören will und um deren Aufmerksamkeit und Zuneigung man buhlt.

Das Schlimmste ist nicht, tot zu sein. Das Schlimmste ist, sich die Lebendigkeit von anderen absprechen lassen zu müssen. Machtlos im Sarg zu liegen oder im Wachkoma. Oder als Wal auf einer Frequenz von 52 Hertz zu singen, wenn alle anderen dasselbe auf 17 Hertz tun.

Das US-Militär hielt ihn für ein U-Boot

Als sie ihn zum ersten Mal hörten, 1989, über ihr hochgeheimes Netzwerk von Unterwassermikrofonen, waren die US-Militärs verwirrt. Sie hielten sein Fragen und Klagen für die Motorgeräusche eines neuartigen, womöglich sowjetischen U-Boots. Was wirklich dahinter steckte, erkannte erst ein auf Meeressäuger spezialisierter Bio-Akustiker, dem nach Ende des Kalten Kriegs Einblick gewährt wurde.

Dr. William Watkins taufte den traurigen Helden dieser Geschichte auf den Namen "52" und vermutete, dass es sich dabei um eine Kreuzung aus Blau- und Finnwal handelt. Fest steht auch ein Vierteljahrhundert später nur eine Handvoll Fakten:

"52" ist ein Männchen aus der Ordnung der Bartenwale, die fast alle großen Walarten umfasst, darunter auch den Blauwal, das größte Tier, das je auf Erden lebte.

Er singt "inhaltlich" und rhythmisch ganz ähnliches wie alle anderen Wale — nur auf einer anderen, deutlich höheren Frequenz, mit 52 Hertz statt wie üblich einem Drittel davon.

Er nimmt andere Routen als alle anderen für die saisonalen Reisen von den Gewässern vor Alaska bis nach Mexiko und zurück, die Wale sonst meist in Kleingruppen zurücklegen.

Und obwohl er unermüdlich und extrem laut singt, wurde seit Beginn der Aufzeichnungen nicht eine einzige Antwort registriert.

Menschen können ihn hören, andere Wale irritiert er

Das wird eine direkte Folge davon sein, dass "52" seine Lieder auf einer besonderen Frequenz durch den Pazifik sendet: Menschliche Ohren können "normale" Walgesänge in Originalgeschwindigkeit maximal fühlen wie extreme Bässe — der Gesang von "52" aber ist so viel heller, dass er hörbar wird wie der tiefste Ton einer Tuba. Bei seinen Artgenossen ist es genau umgekehrt: Für sie singt er verdächtig, unnatürlich hoch. So fallen seine verzweifelten Bemühungen um Kommunikation auf taube Ohren.

Dabei dürfte seine Umgebung durchaus in der Lage sein, seine Signale wahrzunehmen. Doch sie hört weg und bleibt stumm. Aus Angst davor, wer oder was da kommt. Vor dem Unbekannten. Dem Anderen.

Dieses Anderssein gefährdet nicht das Leben des Tiers; atmen, fressen, schwimmen kann es ja. Für das soziale Wesen "52" allerdings ist der abgewandelte Gesang offenbar das Todesurteil. Denn Wale kommunizieren ausschließlich akustisch. Die Sicht ist zu schlecht in der dunklen, trüben Tiefsee, Gerüche breiten sich nur sehr langsam aus. Schallwellen aber trägt das Wasser hunderte, tausende Kilometer weit.

Wale sind höchst soziale Wesen. Sie verfügen über Spindelneuronen — spezielle Gehirnzellen, die Selbstwahrnehmung ermöglichen, Sozialverhalten steuern und über die sonst nur Menschen, Menschenaffen und Elefanten verfügen.

Das heißt auch: Seine Artgenossen sind in der Lage, "52" zu schneiden. Und wenn sie das seit einem Vierteljahrhundert tun, leidet er darunter — nicht grundsätzlich anders oder weniger als ein Mensch.

"52" inspiriert Künstler auf der ganzen Welt

Fasziniert von diesem einzigartigen Fall blieb Bio-Akustiker William Watkins "52" auf der Spur. Begegnet ist er ihm nie. Obwohl die Mikrofone Jahr für Jahr seine Rufe auffingen, die wegen ihrer Andersartigkeit leicht zu identifizieren waren. Die Weiten des Nordpazifik sind fast endlos, Forschungsgelder knapp.

Trotzdem hatte "52" seit 1992 einen Freund.

Einen, von dessen Existenz er nichts wissen konnte. Einen, dessen Artgenossen riesige Maschinen geschaffen haben, die seinen Lebensraum mit Öl und Plastik und ohrenbetäubendem Lärm verpesten.

Und dennoch — ein Freund ist ein Freund ist ein Freund und eins so viel mehr als null. 2004 starb Watkins an Krebs.

Als es nach seinem Tod schien, als wäre "52" wieder völlig auf sich allein gestellt, erschien ein kleiner, dürrer Artikel über ihn in der New York Times. Schon für die nächste Wochenendausgabe musste der Autor einen zweiten schreiben, obwohl es nichts Neues zu berichten gab; die Leser verlangten danach.

Der Autor wurde überschüttet mit Zuschriften aus aller Welt — von Menschen mit gebrochenen Herzen und von Tauben, die vermuten, dass auch "52" sich selbst nicht hören kann. Im Internet wurde "52" zum "einsamsten Wal der Welt". Regelmäßig tauchen die paar über ihn bekannten Fakten in irgendeiner Ecke des Webs auf, mal im Vertrauen auf ihre Wucht, mal ausgeschmückt bis ins Fantastische. "52" inspirierte Künstler aller Art — Dichter und Designer, Musiker und Maler.

Alles in allem sieht Culik nicht schwarz für "52" — im Gegenteil: "Alle Rückschlüsse über ihn basieren auf den Daten der Navy-Hydrophone". Vielleicht treffe er außerhalb von deren Reichweite durchaus auf Artgenossen. Hoffnung macht dem Forscher, dass "52" nicht einfach in Alaska bleibt, was er tun könnte, wenn ihn die Partnersuche tatsächlich frustrieren würde. "Wieso sollte er sonst Jahr für Jahr Tausende Kilometer nach Südosten wandern, in weniger futterreiche Gewässer?"

Als Parabel und Inspiration hat "52" seinen Zweck erfüllt

Vielleicht wäre es besser, wenn "52" nie gefunden würde. Damit die Legende intakt bliebe. Andererseits dürfte der Mythos ohnehin stärker sein als die Realität. Wie bei "Lonesome George". Die Galápagos-Riesenschildkröte war 2012 im Alter von rund 100 Jahren als Letzte ihrer Unterart gestorben; alle Paarungsversuche waren erfolglos geblieben. Im Netz jedoch lebt sie weiter.

Vielleicht war und ist es auch der Sinn des Lebens von "52", uns als Parabel zu dienen. Dann hat er seinen Zweck bereits erfüllt. Die Kunst, die durch ihn inspiriert wurde, bleibt — ebenso der Trost, die Kraft und die Perspektive, die sie verliehen hat.

Vielleicht hat sogar ein cleverer Meeresbiologe einen Weg gefunden, den Gesang zu fälschen und so "52" aus dem Nichts erschaffen, um die Menschheit zum Nachdenken zu bewegen. Und sendet das Signal Jahr für Jahr irgendwie mit minimalen Abweichungen in die Welt. Im Bewusstsein, dass es solch eine "große" Geschichte braucht, um Empathie zu wecken und unspektakuläre Themen zum Thema zu machen.

Die Verseuchung der Ozeane beispielsweise. Und lähmende Einsamkeit mitten im Lärm des Lebens.

(tojo)
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