Serie: 100 Jahre erster Weltkrieg Der Weltkrieg als Familienangelegenheit

1914 ziehen Wilhelm II., Nikolaus II. und George V. in den Krieg. Zwei der drei mittelmäßigen Cousins verlieren im Krieg ihre Throne.

Der Erste Weltkrieg als Familienangelegenheit
Foto: dpa/Radowski

Die Bordkapelle der aufgeschlitzten, bereits sinkenden "Titanic" spielte 1912 scheinbar ungerührt weiter — Todesmelodien im kalten Atlantik. 1913 tanzten drei royale Vettern aus London, St. Petersburg und Berlin ein letztes Mal, Walzerklänge bei anschwellendem Totengesang. Von außen schien es, als könnte die Stimmung von King George V., Zar Nikolaus II. und Kaiser Wilhelm II. im Berliner Stadtschloss nicht besser sein: Des Deutschen Kaisers einzige Tochter, Viktoria Luise, heiratete, und Europas Hochadel, vielfältig miteinander verwandt, verschwägert, verbandelt, traf sich mit Prunk und klingendem Spiel zum großen Familien-Jubelfest. 1914 gingen dann die Lichter in Europa aus; es begann das Völkerschlachten.

Die Vettern aus London, St. Petersburg und Berlin, die sich seit Kindheitstagen in Briefwechseln und bei Begegnungen mit "Georgie", "Nicky" und "Willy" anredeten, besaßen zwar Macht und Einfluss in ihren Ländern, aber den Frieden bewahren, das konnten und wollten sie nicht. Preußens König und Deutschlands Kaiser Wilhelm sowie Russlands Alleinherrscher Zar Nikolaus verfügten über uneingeschränkte Macht. Allein George V. repräsentierte die parlamentarisch kontrollierte britische konstitutionelle Monarchie. Sie hat den Totentanz von "Vierzehn-Achtzehn" unbeschädigt überlebt. Willy und Nicky hingegen rissen der Krieg und seine umstürzenden Folgen hinweg von ihren Thronen. Wilhelm II. wich im November 1918 vor der Republik ins niederländische Exil. Dort verbrachte er noch 23 Jahre bis zu seinem Tod, viel Holz hackend und stets naiv hoffend, aus Berlin erschalle ein Ruf nach Wiedereinsetzung des Monarchen Wilhelm Zwo.

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Foto: Radowski

Nicky, den Zaren in St. Petersburg, traf es grausamer als Cousin Willy, den man in seinem Exil Schloss Doorn bei Utrecht in Ruhe ließ. Nicky wurde mitsamt Gemahlin und fünf Kindern Opfer von Lenins roten Sowjet-Revolutionären. Im Februar 1917 musste der Zar abdanken und wurde zunächst interniert. Im Juli 1918 verbrachte man die gestürzten Romanows nach Jekaterinburg im Ural. Dort wurden sie nachts im Keller ihrer bewachten Bleibe von einem bolschewistischen Mordkommando erschossen.

Der Zar ahnte so wie seine Vettern in Berlin und London, dass dieser Krieg die alte Ordnung samt ihrer Herrscher hinwegfegen könnte. Georgie, Nicky und Willy galten allesamt nicht als die hellsten Köpfe ihrer Zeit. Dass George V. seinen ihm in Hassliebe verbundenen Vetter Wilhelm II. einmal als den "brillantesten Versager der Weltgeschichte" charakterisierte, zeigte: Die beiden Enkel der legendären Queen Victoria waren sich nicht gewogen. Der gewahrte Schein familiärer Eintracht trog. Wären Georgie und Willy nicht Angehörige einer monarchischen Elite, sondern Mitglieder einer bürgerlichen Sippe gewesen — sie wären sich aus dem Weg gegangen. So aber hatte sie die Geschichte zusammengebunden, bis der Krieg, der große Totmacher, die Bande endgültig zerstörte.

Nach jenen letzten hellen Tagen des Hochzeitsfestes im Berliner Hohenzollern-Schloss im Mai 1913 sind sich Georgie, Willy und Nicky nicht mehr begegnet. Aus den drei royalen Cousins wurden Kriegsherren. Zwei davon, George V. und Nikolaus II., der ein angeheirateter Vetter war, hatten ihre Länder mit Frankreich gegen Wilhelms Deutsches Reich verbündet. Dem blieb für eine kurze Weile die Habsburger Doppelmonarchie Österreich-Ungarn als schon morbide Bündnisgenossin.

Das Beispiel der drei Cousins, die über mehr als die Hälfte der Menschheit geboten, zeigt auch, wie richtig die alte Weisheit Charles de Gaulles ist, wonach Länder keine Freunde, nur Interessen hätten. Nicht einmal ihre Blutsverwandtschaft als Enkel Queen Victorias, der Uroma Europas, garantierte, dass sich Britanniens George V. und Deutschlands Wilhelm II. dem Frieden verpflichtet fühlten. Ein überwölbendes Interesse verfolgten die beiden, und Vetter Nikolaus II. (er war mit einer weiteren Enkelin von Queen Victoria verheiratet) tat es ihnen gleich: alles daranzusetzen, ihre jeweilige Herrschaft und die alte europäische Ordnung stabil zu halten.

George war ein Mann ohne geistige Interessen, der gerne zur Jagd ging und akribisch Briefmarken sortierte. Nikolaus galt als antriebslos, weich, fremdbestimmt von seiner Ehefrau. Er sagte über sich: "Ich verstehe nichts vom Herrschen." Unter den drei Vettern war Wilhelm der schillerndste, derjenige mit dem größten politischen Ehrgeiz und berstendem Darstellungsdrang: ein Pfau in Uniform, voller Neid auf Georgie, England und dessen Beherrschung der Meere. Seit seiner Geburt war Wilhelm durch Verkrüppelung eines Armes behindert. Daraus resultierende Komplexe versuchte er zeitlebens durch Großtuerei zu kompensieren. Wilhelm war empfänglich für Schmeicheleien und reagierte empfindsam und zornentbrannt auf alles, was er für Zurücksetzung hielt. Erst recht kränkte ihn die Dünkelhaftigkeit seiner Londoner Verwandtschaft. Von dort hatte es seit Wilhelms Kindheit Sticheleien und britischen Snobismus auf Kosten des seltsamen Preußen gegeben. Gegen Kriegsende flammte bei George Hass auf. Er schrieb an seine Mutter: "Wir müssen bis zum Ende weitermachen, da ich mich diesen brutalen Deutschen niemals unterwerfen werde."

Wilhelm seinerseits löste mit dem einzigen von ihm überlieferten Witz zulasten Georges viel Heiterkeit aus. Als dieser angesichts der sich rasch verstärkenden Aversionen seiner Landsleute gegen alles Deutsche den Namen seines Hauses — Sachsen-Coburg-Gotha — nach dem gleichnamigen Schloss nahe London in Windsor umbenannte, ulkte Vetter Willy: "Ich werde entzückt sein, mir die bekannte Operette ,Die lustigen Weiber von Sachsen-Coburg-Gotha' anzusehen."

George warf sich gegenüber dem geschlagenen Wilhelm in Siegerpose: Dieser habe zwar in 30 Jahren als Kaiser Großes für sein Land erreicht, es nun aber vollkommen zugrundegerichtet. Deshalb, so Georgie über Verlierer-Vetter Willy, erachte er diesen für den größen Verbrecher, weil er die Welt in diesen grässlichen Krieg gestürzt habe.

Georgie besaß nicht nur ein schlichtes Gemüt, sondern auch berechnende Kälte, als es darum ging, dem russischen Vetter Nicky Asyl in Großbritannien zu gewähren. Aufgeschreckt durch die revolutionären Ereignisse in Russland, bangte George auch um seinen Thron. Längst waren auf der Insel antiroyale Proteste aufgeflammt; die anschwellende sozialistische Bewegung gewann in der britischen Arbeiterschaft Anhänger. Da würde ein gestürzter russischer Autokrat wie Nikolaus II. als Asylant auf der Insel nur Öl ins gesellschaftspolitische Feuer gießen. Da der Zar ihm nichts als Probleme bescheren würde, entschied Vetter Georgie, ihn nicht in Obhut zu nehmen. So lieferten er ihn unbeabsichtigt Lenins Mordgesellen aus.

Nachdem die Bolschewiken Nikolaus, dessen Frau, die vier Töchter und den an der Bluterkrankheit leidenden Sohn umgebracht hatten, vergoss George V. Krokodilstränen über die Untat. Und was machte der Dritte im Vettern-Bunde, Kaiser Wilhelm II.? Er stilisierte sich als der moralisch Höherstehende. Als in London Anfang 1917 noch über ein Asyl für den Zaren diskutiert wurde, ließ Willy verlauten, er garantiere der Zarenfamilie freies Geleit durch Deutschland. Gewohnt großsprecherisch setzte Willy hinzu, königliche Kollegen blieben königliche Kollegen — auch im Krieg. Die erzwungene Abdankung des Zaren hielt der Kaiser für eine britische Perfidie, weil London einen Friedensschluss des Zaren mit Berlin fürchtete. Auch werde Großbritannien die russische Revolution zu nutzen versuchen und eine ähnliche Erhebung auch in Deutschland provozieren. Was zeigt: Im Grunde blieb Wilhelm II., der 1890 einen wirklich Großen wie Bismarck vom Hof gejagt hatte, mit politischer Blindheit geschlagen. Für seine mittelmäßigen Cousins galt das allerdings nicht minder.

(RP)
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