Rheinische Pioniere (9): Andreas Gursky Der Fotograf der Gegenwart

Andreas Gursky erschafft Bilder, die dem Medium Fotografie eine neue Dimension verleihen. Es sind Stillleben der globalisierten Welt.

An den Arbeiten von Andreas Gursky kann man den Zustand der Welt ablesen. Seine Bilder sind Berichte über die Verfassung der Gegenwart. Man nehme nur "99 Cent" aus dem Jahr 1999, eines seiner berühmtesten Werke und einst mit 2,4 Millionen Dollar Kaufpreis das teuerste Foto der Welt. Es zeigt einen amerikanischen Supermarkt mit randvollen Regalen, und alles, was darin steht oder liegt, kostet gleich viel - der Schokoriegel ebenso wie Spülmittel und Orangensaft. Dieser bunte Kosmos hat den Menschen verschlungen, er kommt darin nur am Rande vor. Und er ist kein Individuum mehr, nurmehr Konsument, austauschbar und in der Masse aufgegangen. Die Freiheit des Willens bedeutet hier lediglich, entscheiden zu dürfen zwischen: in den Warenkorb legen oder nicht?

Das Werk des Düsseldorfers Gursky wird bisweilen als dekorativ missverstanden, als "Glamourkunst" belächelt, weil Popkonzerte und Formel-1-Strecken zu sehen sind und Madonna, Hugh Grant und Michael Schumacher seine Bilder sammeln. Aber Gursky ist ein hochsensibler Beobachter der Zeit des Überkonsums, und seine Bilder reflektieren die Erhabenheit des Alltäglichen. Die gewaltigen Formate von bis zu drei mal vier Metern entgrenzen und übertreiben den Ausschnitt, verweisen auf die Macht des Dargestellten. Eine seiner aktuellsten Arbeiten ist ein Zyklus aus sieben Bildern. Er heißt "Bangkok" und zeigt Ansichten eines Flusses in Thailand. Wie immer bei Gursky erkennt man die Wucht des Inhalts erst beim Nähertreten: Von Ferne betrachtet muten die Motive poetisch an. Die gewellte Wasseroberfläche reflektiert das Tageslicht, wird von ihm bunt eingefärbt, formt es ihrerseits zu Mustern. Wer genau hinsieht, macht im Wasser bald Müll aus, Plastikflaschen, Tüten, Hamburger-Verpackungen - die prosaischen Zeugnisse der Zivilisation. Für "Bangkok" verlässt Gursky das Geschäft, in dem alles 99 Cent kostet, durch den Hinterausgang und blickt auf das, was vom Kapitalismus übrig bleibt.

Andreas Gursky wurde in Leipzig geboren, sein Großvater Hans und der Vater Willy waren Werbefotografen. Gursky studierte an der Folkwang-Hochschule in Essen, dann an der Düsseldorfer Kunstakademie in der Klasse von Bernd Becher. Bernd Becher und seine Frau Hilla gehören selbst zu den großen deutschen Fotokünstlern des 20. Jahrhunderts. Ihr Themenspektrum war überschaubar und klar definiert. Sie zeigten Fachwerkhäuser, Förder- und Wassertürme, die sie "anonyme Skulpturen" nannten und zu "Typologien" anordneten, zu Serien von neun oder 15 Bildern also. Identitäten und Differenzen wurden durch Präzision aufgehoben, wobei dennoch Raum blieb für Stimmungen.

Aus der legendären Becher-Klasse gingen auch die ebenfalls hochgehandelten Fotokünstler Thomas Ruff, Thomas Struth und Axel Hütte hervor. Aber Gursky vertritt die Lehre Bernd Bechers am wirkmächtigsten. Er hat die dokumentarische Sachfotografie auf eine spektakuläre Ebene gehoben. Und er stellt eine der ewigen Fragen der Fotografie auf zeitgemäße Art, ohne die Bilder zu Versuchsanordnungen werden zu lassen: Realität abbilden oder schaffen? Er entscheidet sich für das designte Dokument. Gursky löste sich allmählich von der klassischen Fotografie und näherte sich den Mitteln der abstrakten Malerei an.

Er arbeitet seine Bilder digital aus, legt mehrere Bilder übereinander und "präzisiert" sie, wie er selbst es nennt. Er ist kein Fotograf, sondern betreibt Kunst mit fotografischen Mitteln. Die Werkgruppe "Oceans" aus dem Jahr 2010 etwa hat die formale Qualität von Gemälden. Für "Oceans" bildet hochauflösendes Bildmaterial von Satelliten die Grundlage: Gursky ergänzt Draufsichten aus dem All um diverse Bilder aus dem Internet, vernäht alles mit der richtigen Software und schafft auf diese Weise Darstellungen der Weltmeere, die mehr an ästhetischer Perfektion ausgerichtet sind als an geografischer Präzision. Gursky malt mit Google Earth.

Pro Jahr bringt er höchstens zehn Motive auf den Markt, jedes davon erscheint in einer Auflage von sechs Stück auf dem Markt. Er zelebriert die Langsamkeit. Und kaum ein Künstler gestaltet seine Karriereschritte und das Auftreten in der Öffentlichkeit derart bewusst wie Gursky. Als Figur der Society tritt er zurückhaltend in Erscheinung, über Privates weiß man wenig. Er vermeidet es, als Künstler der Popkultur aufzutreten, obwohl es Anknüpfungspunkte gibt, etwa wenn er die Düsseldorfer Elektronik-Band Kreidler zur Eröffnung seiner Schau in New York aufspielen lässt oder mit Techno-DJ Sven Väth auf Ibiza feiert.

Andreas Gursky ist für die Fotografie, was Gerhard Richter für die Malerei ist. Seine Arbeit "Rhein II" von 1999 wurde für 4,3 Millionen Dollar versteigert, er trägt den Titel "teuerster Fotograf der Welt". Gursky weitet die Grenzen seines Mediums, das macht seine Kunst so großartig. Für ihn ist Fotografie in erster Linie konzeptionelle Arbeit, deshalb lässt er den Betrachter teilhaben an der Bildproduktion. Andreas Gurskys Werke sind am Computer entstandene Collagen, die das Vorgefundene lediglich als Material benutzen. Die Wirklichkeit, die Fotografien einst wiedergaben, existiert nicht mehr. Das Dokumentarische ist abgeschafft. Kamera und Computer sind gleichberechtigte Werkzeuge des Künstlers. Was Gursky in seinen Lichtzeichnungen zeigt, geht über das Echte hinaus: Es ist reine Reflexion.

Wer seine Bilder betrachtet, wird nach einiger Zeit nervös. Das ist ein Zeichen dafür, dass es nicht gelingt, die Realität des Bildes als Bild einerseits und die Realität im Bild andererseits übereinanderzubringen. Gurskys Arbeiten haben ein Geheimnis, eine Spannung geht von ihnen aus. Warum liegt in der "Bangkok"-Serie so wenig Licht auf der Wasseroberfläche? Wird es völlig verschwinden? Ist dann alles dunkel? Dass Menschen fehlen, intensiviert ihre Wirkung umso mehr: Die Spuren, die man erkennt, der Unrat also, lassen auf die Gegenwart von Menschen schließen. Nur: Wo sind sie? Und was machen sie? Die meisten Fragen, die diese Stillleben der globalisierten Gesellschaft stellen, sind so zu beantworten, dass es nicht gerade beruhigend für uns ist. Aber Gursky vermittelt auch Hoffnung. Durch die erhöhte Perspektive erhebt er den Betrachter über die Gegenwart. So kann der sich ein Bild machen, durchblicken, klar sehen. Das ist der erste Schritt zur Erkenntnis. Gursky ist also auch Aufklärer, mitunter Didakt.

Manchmal wünscht man dem Werk dieses Künstlers mehr öffentliche Auseinandersetzung. Jede neue Bildserie wird entweder bestaunt und bejubelt oder wegen ihrer Überwältigungs-Ästhetik abgelehnt. Was fehlt, ist der kritische Dialog mit den gesellschaftlichen Aspekten dieser Kunst. Das hat Gursky nicht verdient, dafür steckt in diesen Bildern zu viel Wahrheit. "Historienmalerei mit neuen Mitteln", nennt Gregor Jansen, Leiter der Düsseldorfer Kunsthalle, die Arbeiten Gurskys. Das trifft es. Wenn man ein Motto für diese Bilder wählen müsste, könnte es dieses sein: Keine Schönheit ohne Gefahr.

(RP)
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