Wolfenacker/Westerwald Der Jahrhundertmaler – Besuch bei K. O. Götz

Wolfenacker/Westerwald · In wenigen Wochen wird der Vater des deutschen Informel 99 Jahre alt. Mit seiner Frau, der Künstlerin Rissa, lebt er im Westerwald.

Es ist früh am Sonntagnachmittag, als wir einen der bedeutendsten abstrakten Maler Deutschlands aufsuchen. K. O. Götz sitzt im schwarzen Lounge Chair von Charles Eames. Er trägt eine Mütze auf dem Kopf, eine Decke bedeckt die Knie. Es ist der Stammplatz seiner späten Jahre. Mehr liegt er da und richtet sich erst auf, als der Besuch in den hellen Wohnraum eintritt mit Blick auf den Westerwald. Schade, dass er diesen Blick nicht mehr genießen kann.

Karl Otto Götz wird in wenigen Wochen 99 Jahre. "Das ist zu alt", murmelt er. "Das Leben ist nicht lustig", ergänzt Rissa, die Künstlerin, die ihr Leben mit dem Altmeister des Informel teilt. Eine seit acht Jahren zunehmende Erblindung hat dem Künstler den Alltag verdüstert. Wie er das aushalte, wollen wir von ihm wissen. "Wie das Wetter", lautet seine Replik. Trotzdem hat er seinen Aktionsradius nicht vollends eingeschränkt. Das Ehepaar Rissa und K. O. Götz, seit 52 Jahren ein Paar, beide bedeutende Maler, beide lange Zeit Professoren an der Düsseldorfer Kunstakademie, geht aus, wenn Ausstellungen oder Einladungen rufen. Manchmal fühle er sich wie ein Zirkuspferd, wenn er mittlerweile als Attraktion eingeladen werde wie im vergangenen Sommer zur Städel-Eröffnung in Frankfurt. Das erzählt er. Und dass er dennoch die Aufmerksamkeit genieße – und die Geselligkeit.

Sogleich nach Dienstantritt hatte ihm Bundespräsident Joachim Gauck einen liebenswerten Brief zukommen lassen. Darin nimmt das Staatsoberhaupt Bezug auf Götz' Bild "Jonction III" im Berliner Abgeordnetenhaus, das 1990 entstand und die Wiedervereinigung thematisiert; es ist in Schwarz-Rot-Gold gehalten und stellt eine faszinierende Balance zwischen konkretem Historienbild und abstraktem Farbereignis her. So frei es formal ist, so lässt es doch Raum für Interpretation angesichts der Dynamik der Farbströme, der sich verwirbelnden Malachsen. Der Mauerfall, die Kraft der Bürgerbewegung lassen sich vielleicht daraus lesen. Frei davon kann der Betrachter, wie immer bei einem Götz-Bild, auch nur einer allgemeinen geistigen wie emotionalen Erregung nachspüren.

Der Künstler kontert solche Interpretationsansätze gerne mit schlichter Beschreibung des Malvorgangs: "Man kann es betrachten als ein Mehr oder Weniger an aufgetragener, weggekratzter und weggeschleuderter, in den Grund gekratzter oder gestauter Farbe."

Wir wollen Kaffee trinken mit Kuchen aus seiner Heimatstadt Aachen. So wechseln wir an den runden Tisch, wo wir von jüngeren Bildern umgeben sind. "Wulkan" heißt die Serie mit gelben und glutroten Farbexplosionen. An zwei Gehstöcken hat er sich fortbewegt, goldene Ringe sind daran befestigt. Rissa ist 24 Jahre und ein halbes Jahr jünger als ihr Mann. Sie reicht ihm den Arm. Früher war das andersrum.

Kennengelernt haben sie sich 1960 in der Düsseldorfer Akademie, sie war damals Studentin, er Professor. Schon bald verliebten sie sich ineinander. So unterschiedlich ihre Malerei ausfällt, die dialogisch an den Wänden des Wohnhauses erklingt, so einig sind sie sich: "Wir sind politisch, kritisch" – sagt sie. "Wir schauen der Realität ins Gesicht, mögen keine Sentimentalitäten." Ihr Leben verlaufe nach der Gauß'schen Normalverteilung. Beide interessieren sich sehr für Wissenschaft – für alles, was in der Welt geschieht.

Sein allerjüngstes Bild hat K. O. Götz vor wenigen Monaten erst vollendet, sehr großes Format, nur Schwarz und Weiß, weniger dicht als die älteren Bilder, zerbrechlicher ist es, vielleicht durchscheinender wie das Leben, das im Zieleinlauf ist. Früher hat er außer Gouachen alles auf dem Boden gemalt, wie die Action Painter dem kontrollierten Zufall seinen Lauf gelassen. Das geht heute nicht mehr. Es fehlt die Kraft. Er stellt sich breitbeinig, gestützt von Assistent und Ehefrau, vor die Leinwand. Rissa reicht ihm Pinsel und Rakel. Er entwickelt die Form, rhythmische Farb- und Strichakkorde, informelle Elemente, die typische All-Over-Struktur. "Ein großer Wusch", sagt Rissa, "drei Schläge mit dem farbgetränkten Pinsel." Die Blindheit stört dabei nicht. Götz sagt: "Früher habe ich beim Malen die Augen immer zugemacht, daher ist das kein Unterschied zu heute."

Für Götz ist der aus dem Spachtel weiterentwickelte Rakel ein zentrales Malinstrument, 1952 entdeckte er diese Technik für sich, die er an seine Schüler weitergab. Auch der berühmteste von ihnen, Gerhard Richter, arbeitet mit dem Rakel. Götz sagt, Richter habe ihm 1970 am Rande einer Ausstellungseröffnung zugerufen: "Herr Götz, ich habe Ihnen den Rakel geklaut." Die Richters und Polkes wussten damals schon, was sie wollten, sagt Götz. Er habe auch von den Schülern gelernt.

Gerät K. O. Götz einmal ans Erzählen, dann überspringt er im Nu Jahrzehnte und pickt heraus, was wesentlich war oder eine Pointe hergibt. Er sei stolz, dass er unter den Nazis Ausstellungsverbot hatte, und er sei nie neidisch auf die Erfolgreicheren gewesen. "Stets bescheiden geblieben, ohne Ende großzügig", ergänzt Rissa. Schlagfertig, humorvoll und pointiert ist der Mann mit ausgeprägtem rheinischen Tonfall bis heute. Wer ihn fragt, was hinter einem Bild ist, der bekommt zu hören: "Die Wand."

Weniger Leichtigkeit will man seiner Kunst attestieren, seiner surrealistischen Lyrik, seinen Holzvögeln, Edelstahlskulpturen und Stahlreliefs. Im Zentrum steht die meist wuchtige Malerei, die in den 1950er Jahren einen geistigen Aufbruch bedeutete, der heute kaum mehr vorstellbar ist, weil die kognitiven und moralischen Trümmerwüsten jener Zeit nicht mehr präsent sind. Von Jugend an hatte Götz den einen Satz im Kopf: "Abstrakt ist schöner!"

Männer wie er traten an, um neue Bildrealitäten zu definieren, sie gerieten in die Kontroverse zwischen Abstraktion und Figuration. Eines seiner Prinzipien war die absolute Ablehnung aller bildnerischen Normen und ästhetischer Konventionen. Götz schleuderte seine Bilder geradezu ekstatisch aus dem Körper heraus. In Sekunden, höchstens Minuten entsteht ein Bild, dem monatelange konzeptuelle Überlegungen vorausgegangen sind.

Gemeinsam mit seinem Malerfreund Bernard Schultze ist K. O. Götz Mitbegründer des deutschen Informel, einer Richtung, die Anfang der 1950er Jahre zur erfolgreichsten Nachkriegskunst im Westen gehörte und bei ihrem freizügigen Umgang mit Farbe und Form eine Revolution in der Moderne darstellte. Gleichzeitig schwappte dann die US-Kunst nach Europa und Deutschland, die wichtiger genommen und höher gehandelt wurde als das Informel. Die Pop Art wurde erfunden, und die erste Generation der Akademie-Absolventen formulierte anarchistische Bildwelten, die fortan den Ton angaben.

So bleibt einer wie K. O. Götz eine Ausnahmeerscheinung, ein stilprägender Jahrhundertmaler, ein Chronist der Weltumbrüche, der für sein eskalierendes Verlangen nach Freiheit des Geistes und der Fantasie einen Mal-Aktionismus erwählte, der gegenstandsunbezogen ist. Götz tariert den permanenten Formenwechsel aus, was man im Ergebnis Informel nennt. Mit spontanen Gebärdenartikulationen regt Götz den Reduktionsprozess von der gegenständlichen Figuration zur reinen Farb- und Liniengeste an. "Das wird von K. O. bleiben", sagen Götz und Rissa am Kaffeetisch, "und als Eintrag in die Kunstgeschichte eingehen." Einem wie Götz haben wir die Auflösung des klassischen Formbegriffs zu verdanken. Und er ergänzt schmunzelnd für die, die nicht auf Anhieb verstehen: "Das klassische Spiegelei wird zum Rührei."

(RP)
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