Der Kanzler der europäischen Einigung

Der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) hatte ausgeprägte Licht- und Schattenseiten. Seine größte Leistung war aber nicht die Vollendung der deutschen Einheit, sondern die Einbettung Deutschlands in eine europäische Ordnung.

Helmut Kohl liebte den Dom zu Speyer. Nicht ganz unbescheiden bezeichnete er das Gotteshaus als seine "Hauskirche", wie sein Biograf, der Historiker Hans-Peter Schwarz schreibt. Denn der langjährige Bundeskanzler wohnte in Ludwigshafen-Oggersheim, eine kurze Autofahrt von Speyer entfernt. Auf dem kleinen Friedhof des Domkapitels liegt der gläubige Katholik Kohl jetzt auch begraben.

Der Dom zu Speyer ist ein Sinnbild für die europäische Einigung. Er diente als Begräbnisstätte der salischen Kaiser, die das mittelalterliche römisch-deutsche Reich beherrschten, die europäische Zentralmacht. Der riesige Dom, die größte Kirche seinerzeit, prägte die Weltsicht Helmut Kohls, der aus einem katholisch-konservativen Elternhaus stammte. Das Haus Europa, an dem der CDU-Politiker zeitlebens arbeitete, spiegelt sich gewissermaßen in dieser romanischen Kirche wider, einem ersten technischen und künstlerischen Höhepunkt der christlich-abendländischen Kultur.

Kohl war zuerst christlicher Europäer, dann deutscher Patriot. Und ausgerechnet ihm, dem gelernten Historiker, bot sich die Chance, das ewig unruhige Deutschland unwiderruflich in einem liberalen, demokratischen und friedfertigen europäischen System zu verankern. Er ergriff dieses Geschenk der Geschichte ebenso beherzt wie die einmalige Gelegenheit, das gespaltene Deutschland politisch zu einigen. Seine eigentliche Größe, die ihn auf eine Stufe mit Republikgründer Konrad Adenauer und der sozialdemokratischen Jahrhundertgestalt Willy Brandt stellt, beruht auf der Leistung, das größere wiedervereinigte Deutschland für seine Nachbarn erträglich zu machen. Das erforderte eine fest gefügte europäische Union gleichberechtigter Staaten - mit einer einheitlichen Währung und einer europäischen Entscheidungsebene. Beides ist Kohl gegen vielfältige Widerstände im eigenen Land und bei den Nachbarstaaten gelungen. In den Augen des Historikers Schwarz war das "eine so nicht zu erwartende Leistung".

Der Christdemokrat war ein Glückskind. Der Zusammenbruch des kommunistischen Systems im Osten kam trotz des Niedergangs der dortigen Planwirtschaft überraschend. Zugleich fand er in den beiden Präsidenten François Mitterrand (Frankreich) und George Bush sen. (USA) zwei Politiker, die seine Einheits- und Europapläne trotz mancher Bedenken unterstützten.

Es zeichnet den Instinktpolitiker Kohl aus, dass er es verstand, mit entwaffnenden Gesten und ungewöhnlicher Großzügigkeit politische Freundschaften zu bilden. So entschied er 1983 gegen den Rat seines damaligen Finanzministers Gerhard Stoltenberg und der Bundesbank, die Mark aufzuwerten, statt den Franc, die französische Währung, abzuwerten, nachdem der Sozialist Mitterrand sein Land wirtschaftlich an den Abgrund geführt hatte. Der Franzose konnte sein Gesicht wahren und wandelte sich vom "utopischen Sozialisten" zum "Europäer". Später revanchierte sich der Machtpolitiker Mitterrand, der - trotz großer Bauchschmerzen - das stärkere Deutschland akzeptierte und gemeinsam mit Kohl die Währungsunion auf den Weg brachte.

Dass der Vertrag von Maastricht, der Startschuss für den Euro, 1991 nur ein Jahr nach dem Vollzug der Einheit geschlossen wurde, ist kein Zufall. Kohl und Mitterrand drängten auf dieses Datum, um auch hier die Gunst der Stunde zu nutzen. Es folgte eine mühselige Kleinarbeit bis zur endgültigen Etablierung der neuen Währung. Dazu kamen der Streit um hohe Anpassungshilfen für den Süden Europas, die Frage, ob das politisch so wackelige Italien von Anfang an mitmachen sollte, sowie die Überwindung der tiefverwurzelten Vorstellung der Deutschen, dass die Mark ihnen politische und wirtschaftliche Stabilität garantiert.

Kohl fand für die Durchsetzung seiner Ideen einer neuen europäischen Ordnung auch die Hilfe eines zweiten Franzosen, des Linkskatholiken Jacques Delors. Der teilte die inflationsfeindliche Haltung der Deutschen und war zugleich wie Kohl ein leidenschaftlicher Europäer. Dass sie beide katholisch sozialisiert waren, half bei dieser zweiten wichtigen politischen Freundschaft entscheidend mit.

Der ehrgeizige Delors war erst Mitterrands Finanz- und Wirtschaftsminister. Und als er diesem zu gefährlich wurde, sorgte Kohl gemeinsam mit Paris dafür, dass Delors Präsident der Brüsseler Kommission wurde, der beste, den diese Institution je hatte. Mit diesen beiden Politikern aus dem Nachbarland an seiner Seite konnte Kohl den Grundstein für die neue europäische Ordnung nach der deutschen Einheit legen. Sie ermöglichte die umfangreiche Osterweiterung der EU, die anfänglich friedliche Koexistenz mit Russland, ja selbst eine mögliche Beitrittsperspektive für die islamische Türkei.

Seinen Traum von einem europäischen Bundesstaat, den Vereinigten Staaten von Europa, konnte der Europäer Kohl nicht verwirklichen. Diese Hoffnung entpuppte sich als trügerisch, wie der Historiker Schwarz zu Recht darlegt. Doch die von Kohl vorangetriebene Vertiefung der Union erwies sich als so stabil, dass die neue Währung auch den gewaltigen Sturm der Schuldenkrise vorerst überstand.

Geld spielte für den Pfälzer dabei keine Rolle. Er nutzte deutsche Steuergelder großzügig sowohl für den schleppenden Aufbau Ost wie für die Länder Südeuropas, die er zum Start der Währungsunion unbedingt dabei haben wollte. Wirtschaftliche Kategorien waren dem Visionär zweitrangig. Sein ökonomisch falsches Urteil legte den Keim für die erste große Krise und auch für die überhastete Vergrößerung der EU, die jetzt die Entscheidungsfindung auf der europäischen Ebene so schwierig macht. Hätte er sich allerdings wie sein Vorgänger Helmut Schmidt als wirtschaftlicher Lehrmeister aufgeführt, wäre die Alternative freilich ein gespaltener Kontinent gewesen, der sich ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg in ständiger Unruhe befunden hätte. So hat sich Kohls europäische Vision trotz aller Mängel bislang bewährt.

(kes)
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