Gastbeitrag Der Koran aus humanistischer Sicht

Düsseldorf · Die Muslime müssen sich bewusst sein, dass sie nicht mehr da stehen, wo der Prophet Muhammad im siebten Jahrhundert n. Chr. stand.

 Unser Gastautor Abdel-Hakim Ourghi leitet den Fachbereich Islamische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Breisgau

Unser Gastautor Abdel-Hakim Ourghi leitet den Fachbereich Islamische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Breisgau

Foto: privat

Der Korantext als "kanonische Erinnerung" bildet die Grundlage für das "kollektive Gedächtnis" des Islams und wird bis heute von vielen Muslimen auswendig gelernt. Als religiöser Text ist er durch seine verschriftete Form die identitätsstiftende Kraft für alle Muslime. Gemäß dem muslimischen Korandiskurs ist der Koran Gottes authentisches, unverfälschtes und letztgültiges Wort. Seine in allen muslimischen Kulturen geltende Zeitlosigkeit wird durch seine Anerkennung als Gottes geoffenbartes Wort bezeugt. Wer auch nur ein wenig am Wortlaut rüttelt, einen Teil von ihm ablehnt oder ihn gar als Menschenwerk betrachtet, gilt manchen als Häretiker bzw. als Apostat. Seine vielgestaltigen Redeformen und Sprachakte weisen jedoch deutlich auf seine große literarische Partitur hin, welche eine immer wieder neue Lektüre des Korantextes gemäß der Lebenswelt der Menschen legitimiert.

Muslimische Korangelehrte unterscheiden zwischen dem in Mekka (610-622) und dem in Medina (622-632) geoffenbarten Koran. Für den sudanesischen Mystiker Mahmud Taha (hingerichtet am 18. Januar 1985) gilt nur der mekkanische als zeitlos, weil er universal sinnstiftende Lehren im ethischen Sinne beinhalte. Denn die Auswanderung des Propheten im Jahre 622 n. Chr. von Mekka nach Medina veränderte die Lage der neuen Religionsgemeinschaft völlig, was auch im Korantext widergespiegelt wird.

Da Muhammad nun als religiöser und politischer Anführer seiner Gemeinde die Macht des Wortes und die Gewalt des Schwertes vereinte, besäße der medinensische Koran als Ausdruck eines historisch-politischen Modells nach Taha nur eine begrenzte, temporäre Gültigkeit für das siebte Jahrhundert.

Schon ab 624 wurde Gewalt nicht nur im Verteidigungskrieg der Gemeinde des Propheten, sondern eben auch als Angriff gegen andersdenkende Menschen, Heiden wie Schriftbesitzer, das heißt Juden und Christen, ausgeübt. In Medina wurden die dialogorientierten Koranpassagen durch die Offenbarung neuer Verse aufgehoben, die von nun an die Nichtmuslime zu Ungläubigen erklärten. In der medinensischen Sure 9, Vers 29, die circa ein Jahr vor dem Tod des Propheten geoffenbart wurde, werden die gläubigen Muslime aufgefordert, gegen diejenigen, "die nicht an Gott und auch nicht an den Jüngsten Tag glauben, die das, was Gott und sein Gesandter verboten haben, nicht verbieten und nicht der wahren Religion angehören - unter den Schriftbesitzern -", zu kämpfen. Die Liste solcher Koranverse kann beliebig verlängert werden (zum Beispiel Koran 4:191, 5:33). Sie sind nicht nur durch die Persönlichkeit des Propheten bedingt, sondern auch durch die historischen und gesellschaftlichen Begleitumstände ihrer Entstehung.

Der Gelehrte Ibn Taimiyya (gestorben 1328) berief sich auf solche Koranverse und deklarierte den heiligen Krieg zur kollektiven Pflicht. Demnach sei der Islam - wenn nötig - auch mit dem Schwert zu propagieren. Sayyid Qutb (hingerichtet 1966), Ahnherr aller heutigen Extremisten, rechtfertigte die Gewalt damit, dass unsere Zeit mit der vorislamischen heidnischen Epoche vor der Islamverkündung gleichzusetzen sei. Unter der Berufung auf Sure 3, Vers 85, wo nur der Islam als wahrer Glaube anerkannt wird, verdammt Qutb alle Anhänger anderer Religionen als Ungläubige, die zu bekämpfen seien.

Gewiss können verschiedene Gründe als Auslöser für die Gewalt im Islam gelten. Manche muslimische Apologeten und westliche Dialogamateure wollen uns jedoch glauben machen, dass Terrorismus nichts mit dem Islam zu tun habe. Dabei ignorieren und verleugnen sie jedoch die historischen Wurzeln der Gewalt im Islam. Deshalb darf die Bedeutung der Debatte über Gewalt im Islam für das kulturelle Gedächtnis nicht nur einseitig auf die Hervorhebung von "Liebe und Toleranz" in der islamischen Ethik reduziert werden. Mutige muslimische Reformer wie Nasr Hamid Abu Zaid (gestorben 2010) oder der führende liberale Denker Mohamed Arkoun (gestorben ebenfalls 2010) plädieren für die historische Situationsbezogenheit und daher eingeschränkte Gültigkeit des medinensischen Korans. Das betrifft auch andere Koranpassagen wie etwa die, welche die Männer über die Frauen stellen (Sure 2, Vers 228; Sure 4, Vers 34), die die Polygamie mit bis zu vier Ehefrauen legitimieren (Sure 4, Vers 3) oder die das Schlagen der Frauen erlauben.

Die Muslime müssen sich der Tatsache bewusst sein, dass sie mit dem Koran nicht mehr dort stehen, wo der Prophet Muhammad damals im siebten Jahrhundert n. Chr. stand. Vielmehr ist der Korantext Gegenstand des nicht abgeschlossenen Verstehensakts des muslimischen Korandiskurses, der sich immer den jeweiligen Realitäten anpassen muss. Nur dadurch kann die Deutungshoheit bestimmten Gruppen entzogen werden, welche ideologische und politische Ziele verfolgen. Nur eine humanistische Lesart des Korantextes kann einen konstruktiven Beitrag für die Etablierung eines modernen Islams in einem westlichen Kontext leisten, indem sie das reflektierende und kritische Verstehen akzentuiert und die Freiheit der Interpretation betont. Es scheint jedoch noch ein weiter Weg zu sein, bis die Historisierung des Korantextes allgemein anerkannt und der Islam als Religion eine individuelle Angelegenheit sein wird.

(RP)
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