Ny-Ålesund Die Buchhalter des Untergangs

Ny-Ålesund · Auf Spitzbergen beobachten Forscher besorgt die Folgen des Klimawandels. Das alte, massive Eis verringert sich zusehends.

Zur Mittagszeit treffen sich alle Bewohner des kleinen Dorfes zum Essen. In der Kantine wurde viel Holz verarbeitet. Die Stühle sind so bunt wie die Häuser in Ny-Ålesund. Eine willkommene Abwechslung für das Auge, denn die vorherrschende Farbe rund um die nördlichste Siedlung der Welt ist Weiß: der Schnee, die Gletscher an den Berghängen, das Eis auf dem Wasser der Bucht. In Ny-Ålesund überschreitet die Temperatur nur selten den Gefrierpunkt. Und im Winter, wenn die Sonne vier Monate nicht am Himmel erscheint, sind Farben für die Psyche der Bewohner noch wichtiger. "Wir legen viel Wert auf Gemeinschaft, gerade in der dunklen Zeit spielt das eine sehr große Rolle", sagt Asne Dolve Meyer von KingsBay, einer norwegischen Firma, die das Dorf managt.

Bergleute gründeten einst die nördlichste Siedlung der Welt. Schon bald gesellten sich Wissenschaftler hinzu. Der Polarforscher Roald Amundsen startete dort 1926 mit einem Zeppelin zum ersten Flug über den Nordpol. 1200 Kilometer vom Nordpol entfernt haben Deutschland und sieben andere Nationen Ny-Ålesund in ein internationales Wissenschaftlerdorf verwandelt. "Im Winter leben in Ny-Ålesund etwa 45 Menschen", sagt Dolve Meyer. Die Hälfte davon gehört zu Meyers Team: Köche, Ingenieure und Handwerker. Der Rest sind Forscher, die auch während der viermonatigen Dunkelheit täglich ihre Messungen absolvieren. Manche benötigen die Abgeschiedenheit: das Radioteleskop in der Nähe des kleinen Flughafens zum Beispiel, mit dem sich die Verschiebung der Kontinentalplatten beobachten lässt. Zwei neue Teleskope werden gerade gebaut. Die Antennen sind so empfindlich, dass Handys und Bluetooth in Ny-Ålesund verboten sind.

Umweltschutz und Polarforschung bilden traditionell die Schwerpunkte in Ny-Ålesund. Viele dieser Beobachtungen laufen seit Jahren, manche seit Jahrzehnten. Sechs Kilometer außerhalb des Ortes liegt die Station Corbel, ein Außenposten der Menschheit. Seit den 1960er Jahren beobachten Forscher dort Gletscher der Umgebung. Auf dem Dach des norwegischen Polarinstitutes und weiter draußen, auf dem Zeppelinberg, werden Schadstoffe gemessen, die über die Atmosphäre selbst bis in die Einsamkeit von Ny-Ålesund getragen werden. Vor der Küste misst eine Sonde mit Unterwasserkamera Temperatur, Sauerstoffgehalt und Säuregehalt des Wassers.

"Wer heute über die Arktis forschen will, muss nach Spitzbergen kommen", sagt Kim Holém, Internationaler Direktor des norwegischen Polarinstituts. Er lebt in Longyearbyen, mit 2000 Einwohnern der größte Ort auf Spitzbergen, 25 Flugminuten von Ny-Ålesund entfernt. An der Universität studieren mittlerweile 700 Studenten. Hier zweifelt niemand am vom Menschen gemachten Klimawandel. Die Gletscher gehen zurück. Im vergangenen Jahrzehnt ist der Fjord nur einmal zugefroren, die Tierwelt verändert sich. "Diese Region ist stärker betroffen als jede andere", sagt Kim Holém. Es werde nicht mehr lange dauern, bis der Nordpol im Sommer eisfrei bleibt. Im Jahr 2030 vielleicht, doch die Jahreszahl spielt keine Rolle. "Schon heute könnte ein Eisbrecher selbst im Winter das Polareis mühelos durchqueren", sagt Holmén. Das alte, massive Eis werde immer weniger, das junge Eis erreiche nur eine Stärke von einem Meter, vielleicht 1,50 Meter.

Welche Auswirkungen der Wandel auf das Ökosystem hat, wird von den Wissenschaftlern in einer großangelegten Studie dokumentiert. Sie sind so etwas wie die Buchhalter des Untergangs. "Manche Tiere werden sich anpassen können", sagt Holmén, "aber nicht alle". Ein Team deutscher Forschungstaucher aus Helgoland wird vor Ny-Ålesund bis August etwa 300 Tauchgänge absolvieren, Algen sammeln und weiter an der Bestandsaufnahme von Flora und Fauna arbeiten. Im August läuft auf Spitzenbergen und dem benachbarten Franz-Josef-Land die nächste Zählung der wild lebenden Eisbären per Hubschrauber. Die letzte Volkszählung dieser Art war 2004, damals wurde der Bestand mit 2650 Tiere beziffert. "Wir wissen nicht, wie das Ergebnis in diesem Jahr ausfallen wird", sagt Holmén. Manche Forscher vermuten, dass das zurückgehende Eis die Jagdchancen der Bären verschlechtert.

Die Überlebenden sehen sich anderen Gefahren ausgesetzt. Im Fettgewebe der Tiere können die Forscher zahlreiche Umweltgifte nachweisen, besonders schnell steigt die Menge der perfluorierten Kohlenwasserstoffe, die für wasserfeste Textilien und Schuhe verwendet werden. In den Mägen der Vögel findet sich immer mehr Plastikmüll. Wie immer es auf Spitzbergen und mit dem Nordpol weitergeht: "Niemand wird sagen können, er habe nichts davon gewusst", so bilanziert Holmén.

(RP)
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