Mumbai Die Not der Straßenkinder von Mumbai

Mumbai · In der größten Stadt Indiens leben 37 000 Kinder auf der Straße. Sie lockt der Traum vom besseren Leben – die Realität ist brutal.

Mathew George ist ein großer, schwerfälliger Mann um die 50. Er hat lange in der Textilindustrie gearbeitet, genug Geld verdient für ein bequemes Leben. Doch die Armut in seinem Land hat er nie verdrängen können. Er konnte sie nicht einfach beiseite schieben, die Kinder, die auf der Straße betteln, an den Bahngleisen schlafen, irgendwann anfangen, Drogen zu schnüffeln und dann diesen toten Blick bekommen. Dagegen wollte er etwas tun. Er hat seinen Job gekündigt, ist Sozialarbeiter geworden, hat sich von den Bedenken seiner Familie nicht aufhalten lassen. Mathew kann stur sein. Man sieht ihm das an. An der Schwere, mit der er sich bewegt, der Bedächtigkeit in seinem Blick, den viel zu hoch gezogenen Hosen, die er mit breitem Gürtel um den Bauch schnallt. So einem vertrauen die Jungs.

Aber heute sind sie nicht an ihrem Schlafplatz, einem schmalen Grünstreifen vor einem Hochhaus im Zentrum von Mumbai. Am Zaun haben sie sich einen kleinen Tempel gebaut, mit Götterglanzbildchen, Stofffetzen und ein paar Räucherstäbchen. Sonst deutet nichts darauf hin, dass auf dem brauen Streifen Erde, auf dem sich der Müll der Straße sammelt, Kinder wohnen.

"Wahrscheinlich ist heute die Polizei hier unterwegs", sagt Mathew. Dann hauen die Jungen ab. Sie wollen nicht ins Heim. Und sie wollen nicht zurück nach Hause. Das vor allem nicht. Mathew steht noch eine Weile, als nehme er Witterung auf, dann macht er kehrt, geht die Straße hinauf. Da beginnt ein Trampelpfad über eine riesige Grünfläche. Männer in weißen Sportanzügen schlagen Bälle über das Feld. An einer Seite des Cricketplatzes steht ein altes Clubhaus in britischem Kolonialstil. Für Sekunden laufen wir durch ein anderes Jahrhundert. Fast sehen wir die Herren im hellen Tropenanzug, die früher mit dem Five o'clock Whiskey auf die Veranda kamen und den Sportlern zusahen. Doch dann ist der Trampelpfad schon zu Ende, wir tauchen wieder ein in das Lärmen der Stadt, laufen geradewegs zu auf den Victoria Bahnhof. Dichter Verkehr. Straßenhändler säumen die Wege. An einer Unterführung zum Bahnhof entdeckt Mathew die Jungs.

Sie haben sich auf ihren Schätzen niedergelassen, auf Bündeln voller Plastikmüll. Den haben sie auf ihren Routen durch die Stadt gesammelt, um ihn für ein paar Rupien zu verkaufen. Nun machen sie Pause, lagern neben einer Zeile mit Imbissbuden und spielen Karten. Passanten geben ihnen hier schon mal Essensreste oder ein paar Münzen.

Auch Shafiq hat so gelebt. Er war neun als er nach Mumbai kam, allein, ein Ausreißer. Er kommt aus einem Dorf in Rajasthan und hat als Kind die Heldenfilme aus Bollywood geguckt. "So ein Held wollte ich auch werden", sagt Shafiq, "ich wollte in die Stadt gehen und reich werden. Mumbai ist die City of Dreams – die Stadt der Träume."

Etwa ein Jahr hat er sich auf den Straßen der 12,5 Millionen-Einwohner-Stadt durchgeschlagen. Er hat sich einer Jungenbande angeschlossen, hat mit Handlangerdiensten in Hotels oder bei großen Hochzeiten ein wenig Geld verdient. Zum Baden ging er manchmal in ein Don-Bosco-Haus in der Stadt. Im Shelter gab es auch etwas zu essen und einen Hof zum Fußballspielen. "Die Jungs dort sahen froh aus und sie haben etwas gelernt. Mir war ja inzwischen klar geworden, dass ich auf der Straße keine Zukunft haben würde", sagt Shafiq.

Er bat um Aufnahme in das Shelter und schaffte es, sich auf den strukturierten Alltag mit Lernzeiten und Schulbesuch einzustellen. Das gelingt nur wenigen. Shafiq hatte ein Ziel, er wollte weg von der Straße und nun steht er kurz vor dem Schulabschluss. Danach will er Wirtschaft studieren für eine Reederei arbeiten. "Dann werde ich viel reisen und die Welt sehen", sagt er.

In Bandra, einem der Edel-Stadtteile von Mumbai, gibt es eine Uferpromenade. Dort liegen trutzige Villen mit Blick aufs Meer. Vor einer sammelt sich jeden Tag eine Traube junger Männer. Sie stehen am Straßenrand und schauen hinauf zu einer Luxus-Wohnung mit getönten Scheiben. Dort wohnt Shah Rukh Khan, ein Bollywood-Star, der in Mumbai entdeckt wurde. Heute verdient er Millionen. Und hat Fans, die Tage ausharren, nur um ihn zu sehen. Das ist der Traum.

Auch Salman Hashmi hat ihn geträumt. Er war sieben, als er weglief. Er floh vor der Gewalt daheim, so wie viele der 37 000 Straßenkinder, die laut einer aktuellen Studie auf Mumbais Straßen leben. "Mein Vater hat mich oft geschlagen", erzählt Salman, "und einmal hat er mich an den Füßen an einen Baum gehängt, da bin ich in den nächsten Zug nach Mumbai gestiegen." Auch Salman hat sich etwa ein Jahr in der Stadt über Wasser gehalten. Er wurde Botenjunge in einer Schule, durfte dafür in einem der Klassenzimmer schlafen. Irgendwann wurde er aufgegriffen, zu seinen Eltern zurückverfrachtet, aber die Sehnsucht nach Mumbai blieb. "Ich wollte Stuntman werden, mein Glück machen wie Shah Rukh Khan", sagt Salman. Nach der Schule kehrte er zurück in die Stadt, suchte sich Jobs in Schnellrestaurants, wurde schlecht bezahlt, mies behandelt. Doch er blieb, sparte, kaufte sich ein Motorrad, fährt jetzt Essen aus.

Die meisten Straßenkinder in Mumbai sind keine Waisen. Laut Studie leben etwa 65 Prozent mindestens zeitweise mit ihren Eltern – auf der Straße. "Das Leben dieser Kinder können wir nur verändern, wenn auch deren Familien sich ändern", sagt Bruder Joseph Sebastian, Leiter des Kinderheims St. Catherine of Siena in Mumbai, "wir sagen den Eltern deutlich, dass sie sich Arbeit suchen, sich pflegen und anständige Kleider tragen müssen."

Die Einrichtung verlangt auch, dass Eltern Geld für ihre Kinder ansparen. Schließlich sparten sie den Unterhalt, solange ihre Kinder im Heim leben. Von den etwa 300 Familien, die jedes Jahr versuchen, ihre Kinder in St. Catherine unterzubringen, lassen sich im Schnitt nur etwa zehn auf diese Regeln ein. Deren Kinder aber haben gute Chancen, dem Leben auf der Straße für immer zu entkommen. Darum ist Elternarbeit die neue Strategie in vielen Einrichtungen für die Straßenkinder in Indien.

Salman Hashmi hat es aus eigenen Kräften in ein neues Leben geschafft, wenn er als Essenskurier auch weiter arm lebt. Einmal wurde irgendwo in Mumbai eine Serie gedreht, und er durfte auf seinem Motorrad durchs Bild fahren. Er erzählt das stolz. Dann will er sich auf dem Sattel fotografieren lassen. Dazu macht er eine finstere Miene, knirscht mit den Kieferknochen, das hat ihm ein Profi gezeigt. Hashmi träumt weiter von der Karriere beim Film. Das macht es ihm erträglich, das Leben in Mumbai, in der City of Dreams.

(RP)
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