"Elegie an John Donne" von Joseph Brodsky

Hörbuch Gedichte sind immer zum Lesen, nicht unbedingt zum Vorlesen da. Manche sind so wortgewaltig, gedrungen, komplex, beladen mit Inhalt, Form und Sinn, dass selbst der beste Sprecher nicht alle Feinheiten transportieren kann. Zuweilen kommt es aber auch zu Missverständnissen, was ein Gedicht überhaupt will und wie es sprachlich zu gestalten ist. Ein solcher Fall tritt jetzt bei der CD "Elegie an John Donne" ein (bei ECM), die bedeutende Gedichte des russischen Literaturnobelpreisträgers Joseph Brodsky bietet.

Hörbuch Gedichte sind immer zum Lesen, nicht unbedingt zum Vorlesen da. Manche sind so wortgewaltig, gedrungen, komplex, beladen mit Inhalt, Form und Sinn, dass selbst der beste Sprecher nicht alle Feinheiten transportieren kann. Zuweilen kommt es aber auch zu Missverständnissen, was ein Gedicht überhaupt will und wie es sprachlich zu gestalten ist. Ein solcher Fall tritt jetzt bei der CD "Elegie an John Donne" ein (bei ECM), die bedeutende Gedichte des russischen Literaturnobelpreisträgers Joseph Brodsky bietet.

Brodsky (1949 bis 1996) hat ein "Wiegenlied" geschrieben, das zu den Gipfeln der religiösen Literatur zählt. Hierin spricht Maria mit weicher Stimme zum Säugling und gibt ihm Empfehlungen fürs Dasein, ahnend, dass diese Ratschläge nur bescheidene Wegweisungen sein können angesichts der alles übersteigenden Bedeutung und Autonomie des Gottessohns. Es handelt sich um strophische Vierzeiler, die Alexander Nitzberg grandios ins Deutsche übersetzt hat.

Diese Version liest jetzt Christian Reiner. Doch anstatt die langsam leiernde, beschwörende Textur abzubilden, haben sich die Produzenten einen fragwürdigen Kunstgriff einfallen lassen. Zwei der vier Zeilen (nämlich die vom Versmaß kürzeren Zeilen zwei und vier) erklingen gleichsam wie ein sehr, sehr leises Echo aus der Ferne, wie ein kaum zu verstehender Reflex vom Band. Die Reime sind paarig angelegt, aber weil alle Zeilen ineinander greifen, erlebt man in dieser Version Reiners, die auch zu schnell gelesen ist, das Gedicht nicht wieder.

Eben weil "Wiegenlied" ein Meilenstein ist, ist es bedauerlich, dass Reiner es zerstückelt. Bei anderen Gedichten tritt das Problem nicht auf, und Brodskys riesige "Große Elegie an John Donne", den bedeutenden englischen Dichter, einer der Metaphysiker, hört man in gleich zwei verschiedenen Übersetzungen. Die eine dauert 26 Minuten, die zweite 17 Minuten. In beiden Darbietungen trifft Reiner bravourös den Tonfall der Übertragungen und den Geist dieser imposanten Huldigung an einen Kollegen, die jeweils mit einem Satz beginnt: "John Donne ist eingeschlafen.

" Wolfram Goertz

(RP)
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