Düsseldorf Elektroden im Hirn gegen den "Veitstanz"

Düsseldorf · An der Düsseldorfer Universitätsklinik wurde eine internationale Studie gestartet: Sie will per Tiefenhirnstimulation Patienten therapieren, die an der gefürchteten und bis heute unheilbaren Krankheit Chorea Huntington leiden.

Früher hätte der derbe Volksmund gerufen: "Guck mal, ein Gestörter!" Heutzutage sagt man deutlich klüger und mitfühlender: "Der hat bestimmt eine neurologische Krankheit." Aber welche?

Der Patient zuckt, ohne es zu wollen. Die Gliedmaßen wirbeln und verdrehen sich, der Kopf bäumt sich nach hinten, die Arme schlackern wie wild, der Körper schreit - alles völlig unkontrollierbar, ohne Vorankündigung, ohne Willensakt. Früher nannte man die Krankheit "Veitstanz", weil man noch nichts Griechisches aus der Fachsprache hatte. Dann fand man Chorea, das hellenische Wort für Tanz. Leider ist bei diesen Patienten die Choreografie alles andere als vergnügliches Improvisationstheater, sondern der neurologische Prozess eines unaufhaltsamen Untergangs von Hirnfunktionen, der den Körper einer Steuerzentrale beraubt.

Chorea als typische Netzwerkerkrankung läuft in den Basalganglien des Gehirns ab, einem Kerngebiet unterhalb der Großhirnrinde, das wichtige Aspekte der Bewegung, des Denkens und des Fühlens reguliert. Kranke mit Chorea Huntington, die vererbt wird, sind mit einer Störung in einem Bereich dieser Basalganglien geschlagen. Bei schweren Verlaufsformen ist der Prozess so heftig, dass er über etwa zehn Jahre langsam zum Tode führt. Bis heute ist Chorea Huntington nicht heilbar. Jährlich erkranken fünf von 100 000 Patienten an der Krankheit. Der Leidensdruck ist gewaltig, und nicht wenige Patienten entwickeln auch psychische Störungen.

Aber die moderne Medizin öffnet auch bei den unheilbaren Krankheiten immer wieder unerwartete Fenster. Bei neurologischen Erkrankungen ist das die Tiefenhirnstimulation, ein Behandlungsverfahren, für die das Universitätsklinikum Düsseldorf eine international anerkannte Expertise besitzt. Die beiden Professoren Alfons Schnitzer (Neurologie) und Jan Vesper (Neurochirurgie) haben schon viele Parkinson-Kranke mit der Methode behandelt, und "dabei haben wir so viel gelernt, dass wir diese Kompetenz nun auch bei Chorea Huntington nutzen wollen" - und zwar im Rahmen einer internationalen, streng geregelten Studie, die von Düsseldorf aus geleitet wird und von der Deutschen Forschungs-Gemeinschaft (800 000 Euro) unterstützt wird. Etwa 50 Huntington-Patienten sollen an den Zentren von Kiel bis Cardiff behandelt werden, Düsseldorf wird nach jetziger Planung acht Patienten übernehmen.

Es war ein langer Weg zu dieser Studie, er währte mehr als zehn Jahre, erzählt Vesper, und führte über zahllose Hürden und an Widerständen vorbei. Bewilligungsprozesse laufen in der nationalen und internationalen Forschergemeinschaft zuweilen unverständlich ab, wie beim Rösselsprung. Trotzdem überwog am Ende die Düsseldorfer Kompetenz - vor allem weil die Experten der Uniklinik über nachweisbar große Erfahrung mit der Tiefenhirnstimulation, über Knowhow und Equipment verfügen.

Was passiert bei einer Tiefenhirnstimulation? Vesper: "Es gibt eine bestimmte Hirnregion, in der die Netzwerke offenbar gestört sind. Diese Bereiche stimulieren wir mit Elektroden, ähnlich wie ein Herzschrittmacher das Herz stimuliert." Der Eingriff wird in Vollnarkose vorgenommen, aber die Tiefe der Narkose wird zwischendurch minimal reduziert. Schnitzler: "Für uns und die Genauigkeit des Eingriff ist es wichtig, dass wir durch Teststimulationen beispielsweise überprüfen können, ob die Elektroden richtig liegen." Bei diesen frühen Tests lassen sich erste Effekte überprüfen.

Eine Studie ist natürlich ein anderes Manöver als eine normale Operation. Studien verlaufen in ihrem Design so schockgefroren kalt, dass die Ärzte fast den Spaß an der Sache verlieren könnten. In dieser Huntington-Studie werden die Patienten genau ausgewählt; es kommen nur die psychisch weniger auffälligen Fälle infrage. Dann werden sie per Los auf zwei Therapiearme verteilt. Die unterscheiden sich nur dadurch, dass bei der einen Hälfte der Patienten der Schrittmacher sofort aktiviert wird, bei der anderen drei Monate später. Zwischenzeitlich werden alle Patienten immer wieder gemessen, befragt, mit Videos gefilmt.

Die Studie verläuft streng randomisiert (also per Los) und verblindet: Kein Arzt weiß, welcher Patient sich in welcher Gruppe befindet. Externe Prüfärzte schalten die Schrittmacher ein; die Lose befinden sich unter Verschluss. Vesper und Schnitzler dürfen allenfalls raten. So wird verhindert, dass die Ärzte unwillentlich Hoffnung auf einen Patienten ausstrahlen, bei dem der Apparat sofort Strom abgibt, nicht erst nach drei Monaten. Solche persönlichen Aspekte sind in einer Studie unzulässig, weil sie das Ergebnis verzerren können.

Schnitzler und Vesper sind sich einig: "Wir und natürlich auch die Patienten erhoffen uns von der Studie Aufschlüsse, wie die tückische Krankheit abläuft. Wir lernen sie verstehen." Im gleichen Atemzug lernen sie noch mehr Details über den Verlauf der Krankheit. "Nur so kommen wir auch zu der Frage nach neuen Therapieoptionen."

Schrittmacher wie diese - sie werden im Wert von 1,2 Millionen Euro für die Studie von der Firma Medtronic gestiftet - sind in der Medizin standardisierte Instrumente; die Elektroden sind robuster als früher, als Kardiologen in legendären Vorträgen von Alptraum-Szenarien mit dramatischen Kabelbrüchen berichteten. Nur das Aggregat hält nicht ewig, es muss nach einigen Jahren gewechselt werden. Wer dafür Lebenszeit und -qualität gewinnt, wird die Mini-OP verschmerzen. Dass es nun allerdings erstmals eine aussichtsreiche Therapieoption für Chorea Huntington gibt, ist für die neurologische und neurochirurgische Welt ein Segen.

(RP)
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