Pianistin Elisabeth Leonskaja - freie Seele am Klavier

Die aus Georgien stammende Künstlerin ist eine der großen Pianistinnen der Gegenwart. Jetzt spielt sie Ravel und Debussy.

Chopins e-moll-Klavierkonzert hat die perfekte DNA für ein virtuoses Schlachtross. Es ist so programmiert, dass die Musik klirrt, schäumt, galoppiert; dass die Triller fliegen und die Oktaven einschlagen. Das Stück ist ein Magnet für jede Arena.

Wenn die georgische Pianistin Elisabeth Leonskaja dieses Konzert spielt, wird das Schlachtross nicht schnurstracks auf die Trabrennbahn oder vor die Kamera geführt. Leonskaja betrachtet es mit den Augen der Poesie. Die majestätische Dimension wird dadurch nicht verkleinert, aber es herrscht ein liebender, lyrischer Blick aufs Ganze. Bei Leonskaja findet das Stück gleichsam zu sich selbst, zu nobler, frei strömender, bewegt erzählter Prosa. Es brüllt nicht und glitzert nicht. Andererseits sollte man sehr genau anhören, wie perfekt Elisabeth Leonskaja das typische Chopin-Rubato beherrscht, indem sie die linke und rechte Hand im perfekten Timing aus Strenge und Gelassenheit ausführt. Wenn man es mit einem sehr prosaischen Vergleich illustrieren möchte: Die Linke ist das Herrchen, die Rechte das verspielte Hündchen. Als individuelles Paar sind sie unzertrennlich.

Jene Methodik der unaufdringlichen Verfeinerung könnte das Markenzeichen der Pianistin Elisabeth Leonskaja sein. Schon früh zog sie sich für eher diskreten Stil Bewunderung zu. Die 1945 in Tiflis geborene Musikerin galt bald als Wunderkind, das dringend aufs Podium gehörte. Sie selbst liebte diese Öffentlichkeit, aber sie war zurückhaltend, wenn es um jede Form der Selbstdarstellung ging. Man muss das nicht für einen Ausdruck von Introvertiertheit halten, es liegt eher gesunde Skepsis in dieser Haltung.

Die merkt man auch ihrer neuen CD an, die unter dem Titel "Paris" Musik aus der französischen Hauptstadt bietet: Ravel, Enescu, Debussy. Sie spielt etwa Ravels "Valses nobles et sentimentales" absolut geistreich - wer in Moskau studierte und von Ferne zaristischen Geist erlebt hat, der ist für Französisches fast perfekt geeignet. Auch für Debussys "Préludes" findet sie eine Noblesse, die nichts vernebelt, sondern erzählerische Strenge wahrt.

Ihr Studium am Moskauer Konservatorium bei Jacob Milstein von 1964 an führte zu einer stupenden und sehr gründlichen Ausbildung, nicht zur Faxenmacherei. Trotzdem war ihre Brillanz außerordentlich und führte zu mehreren Preisen bei renommierten internationalen Klavierwettbewerben: beim Enescu-Wettbewerb in Bukarest, beim Marguerite-Long-Wettbewerb in Paris, beim Concours Reine Elisabeth in Brüssel. Allerdings hatte sie einen Mentor, der sie in ihrer Gesinnung unterstützte: den 30 Jahre älteren Pianisten Svjatoslav Richter. Zwischen beiden keimte eine kostbare Freundschaft, er hatte sie über ihren Ehemann, den Geiger Oleg Kagan, kennengelernt, coachte sie bald, beriet sie, machte mit ihr gemeinsame Konzerte. Scheu vor dem Rummel verband sie, beide wollten gute, tiefe Musik machen, nichts anderes.

Später lobte Richter seine "Lisa" sehr freundlich; er sprach von ihren "guten, ehrlichen Interpretationen" und ihrem "perfekt kontrollierten Spiel". Leonskaja ihrerseits nannte Richter einen "Koloss". Sie wurden ein fabelhaftes Duo, noch bis weit in die 90er Jahre. Ihre Aufnahme etwa des Konzerts für zwei Klaviere von Francis Poulenc ist bis heute unübertroffen - eine Allianz aus funkelndem Witz und Klassizität.

Und es schlummerte eine weitere Sehnsucht in den beiden verschworenen Künstlern Leonskaja und Richter: die nach Freiheit. Das Russland, das beide erlebten, war eng, gedrückt, vom Geist des stalinistischen Hochmuts gekennzeichnet. Im Jahr 1978 hielt es Leonskaja in Russland nicht mehr aus, sie emigrierte nach Wien. Im Jahr darauf gab sie ein sensationelles Debüt bei den Salzburger Festspielen, das ihre Karriere unaufhaltsam entzündete.

Es war immer interessant zu erleben, was diese geistig so vielseitig interessierte und kluge Künstlerin spielte - und vor allem: was sie nicht spielte. Das manuelle Geschick für die komponierten Hals- und Fingerbrecher von Sergej Prokofjew und Sergej Rachmaninow besaß sie ohne Frage, aber mit dieser Musik, die ihr klirrend kalt oder zu mondän vorkam, wollte sie nicht so viel zu tun haben. Ihre Diskografie bezeugt diese Abwendung von der zirzensischen Variante des Klavierspiels. Da ist viel Brahms, viel Chopin, noch mehr Schubert und Beethoven.

Als Schubert-Interpretin macht Leonskaja einen unglaublichen Eindruck. In ihren Aufnahmen der späten Sonaten erlebt man nicht nur eine bezwingende formale Kraft, die Kompetenz zu großer Disposition, die aus der Souveränität der Ruhe kommt, man spürt auch immer einen virtuell anwesenden Sänger. Leonskaja lässt hier nicht den Geist des Abschieds, sondern der einer alles beseelenden Melodie spüren.

Wie übrigens dieser virtuelle Sänger im Realfall seines Amtes walten könnte, das erlebt man eindrucksvoll in ihrer Schubert-Platte mit dem Bariton Matthias Goerne, die unter dem Titel "Sehnsucht" steht. Wie sie die Triller in "Freiwilliges Versinken" eher sanft, aber umso eindringlicher abtönt, wie sie die seltsamen einleitenden Akkorde in "Grenzen der Menschenheit" zu komplexen Erscheinungen gewichtet - das ist höchste Kunst. Ihre köstliche Aufnahme von Schuberts "Forellenquintett" mit dem Alban-Berg-Quartett ist der Idealfall einer in alle Richtungen denkenden, aber nie exzentrischen Lesart.

Wer glaubt, Madame sei nur für die zahmen Dinge zuständig, der irrt: Soeben hat sie in Glasgow die beiden kolossalen Brahms-Klavierkonzerte gespielt. An einem Abend.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort