München Entdecke die Möglichkeiten!

München · Moderne Musik scheint oft unverständlich. Jetzt hilft das faszinierende Internet-Projekt "Explore the Score", hinter ihre Geheimnisse zu kommen. Es bietet Wissenschaft für alle - beispielsweise bei Musik des großen György Ligeti.

Als es erstmals über uns kam, dieses Flirren und Flimmern, dieses vielversprechende Oszillieren und Vibrieren, da warteten wir ein Weilchen, bis die Melodie kommen würde. Jedoch, sie kam nie. War das möglich? Kann es Musik ohne Melodie überhaupt geben? Das Stück heißt "Atmosphères", eigentlich ist es Schnee von gestern, es ist von 1961 und eins der ältesten Werke des großen Komponisten György Ligeti, doch immer wurde er auf "Atmosphères" angesprochen, die Leute kannten es nämlich aus dem Kino, aus Stanley Kubricks "2001 - Odyssee im Weltraum". Die Musik aus dem Off machte ihn berühmt. Auch in "Shining", in "Eyes Wide Shut" oder Scorseses "Shutter Island" ist Ligeti-Musik zu hören.

Heute gilt Ligeti (1923-2006) als Komponist, der in der Welt angekommen ist und nicht mehr durchgesetzt werden muss. Um seine Klavierstücke aber machen sogar Freaks einen Bogen. Die Etüden etwa gelten als hermetisch, hochgradig kalkuliert, mathematisch verplant. Es handelt sich um kybernetische Musik, sie ist bis ins Letzte genau gesteuert und geplant, weil genau dieses Letzte bekanntlich oft das Bausteinchen ist, das alles zusammenhält.

Wie wäre es, wenn man sich solcher Musik, die einen Zaun um sich zu errichten scheint, an jenem Ort nähern könnte, an dem man sowieso viel Zeit verbringt: vor dem Computer? Diese Möglichkeit gibt es jetzt, und zwar in dem grandiosen Internet-Projekt "Explore the Score", welches das Klavierfestival Ruhr, der Musikverlag Schott, die Paul-Sacher-Stiftung Basel und der französische Pianist Pierre-Laurent Aimard auf die digitalen Beine gestellt haben.

"Ligeti lernen" ist gewissermaßen der Oberbegriff des Unternehmens, das dem Pianisten Aimard jetzt den mit 250.000 Euro dotierten Ernst-von-Siemens-Musikpreis beschert: Er ist der Musketier des Unternehmens. In "Explore the Score" nimmt er sich viel Zeit - und uns Zuhörer an die Hand. Aimard, der Lehrer, öffnet den Werkzeugkasten des Komponisten und drückt uns gleichsam die Bauanleitung in die Hand, als sei eine absurd schwierige Ligeti-Etüde wie "Entrelacs" nicht komplizierter als das Schraubsystems eines gewissen Billy-Regals. Beides hat, wie wir ahnen, viel mit Wissenschaft zu tun.

Ligetis Klavierstücke sind atemberaubende Versuche über die Aufspaltung von Zeit. Oft lässt Ligeti Rhythmen und Metren, wie er sagt, "auf mehreren Etagen" ablaufen. Dann kriecht eine Passage durch den Keller, während eine andere im Parterre zu schreiten und wieder eine andere durchs Dachgeschoss zu rennen scheint. In Wirklichkeit sind die Sechzehntelnoten aller "Etagen" gleich schnell, nur die Phasen, in denen Ligeti sie organisiert, sind ungleich lang. So wirkt die Etüde "Entrelacs" wie ein kalkulierter, knapp dreiminütiger Taumel.

Das Stück erfordert einen kolossal virtuosen Pianisten mit zehn schier autonomen Fingern - also einen wie Aimard. Dessen manuelle und intellektuelle Kompetenz ist so groß, dass ihm, wie sein langjähriger Freund Ligeti gesagt hätte, die perfekte "Illusion" für "Entrelacs" glückt. In Wirklichkeit sind in dieser Etüde sogar sieben Stockwerke auf zehn Notenlinien verbaut; und damit der Hörer in diesem Gedränge nicht verloren geht, nimmt sich der warmherzige Professor Aimard in einem Video vom Klavier aus viel Zeit, dieses Schichtenmodell zu erklären (er spricht von "Glocken", deren sich wiederholende Akzente die jeweilige Phasenlänge bestimmen). Dank Aimards langsam singendem Deutsch kapieren wir, warum Ligeti die Takteinheiten abgeschafft hat. Und wir staunen, wie lieblich die Akzente in "Entrelacs" wie von einem fernen Kirchturm hallen. Ein sanftes Stück, teuflisch verzwickt.

Zur Immatrikulation in der menschenfreundlichen Internet-Volkshochschule von "Explore the Score" benötigen wir eine stabile Verbindung, dann öffnet sich per Mausklick alles: der Pianist Aimard, der diese Etüden spielt und zuvor spielpraktische Tipps gibt. Die Partitur, die, farbig gegliedert, zeitgleich mitläuft. Der Komponist, der im Hintergrund Anmerkungen macht. Die Funktion "Meisterkurs", die spezielle Spielprobleme diskutiert. Am Ende hat man das Gefühl, in die Tiefenschichten eines Werks eingedrungen zu sein. Toll!

Wer das wenigstens in Zeitlupe mal spielen möchte, kann sich beim Schott-Verlag natürlich die Noten kaufen. Erst einmal setzt er sich das Tablet oder den Computer aufs Klavier und spielt vom Bildschirm, aber man sollte sich hüten, schnell Fortschritte zu erwarten. Ligetis Etüden sind aberwitzige Sturzgeburten: spukhafte Erscheinungen ("Touches bloquées"), pianistische Marionetten ("Der Zauberlehrling"), rhythmisch-metrische Verknotungen ("Galamb borong"), zuschlagende Gewalt ("Désordre", "L'escalier du diable"), sanft swingende Abläufe ("Fanfares") und strömende Poesie ("Arc-en-ciel").

Zurück zu "Entrelacs": Man benötigt etwa 45 Minuten Wachheit vor dem Internet, um "Entrelacs" verstanden zu haben. Und auch wenn man es wahrscheinlich nie spielen wird, so ist man zum Wissenschaftler geworden, der die Geheimnisse und die Möglichkeiten entdeckt hat. Kann man mehr wollen?

(w.g.)
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