Serie: 100 Jahre erster Weltkrieg Erster Weltkrieg — wer hatte Schuld?

Düsseldorf · Zwangsläufig war der Krieg nicht. Und alle Beteiligten hatten ihren Anteil daran. Die erste Eskalation aber ging von Wien und Berlin aus.

 Österreichische Truppen führen während des Ersten Weltkrieges einen Sturmangriff an der Isonzofront (Ostabschnitt der italienisch-österreichischen Front) durch.

Österreichische Truppen führen während des Ersten Weltkrieges einen Sturmangriff an der Isonzofront (Ostabschnitt der italienisch-österreichischen Front) durch.

Foto: dpa, dpa

Es ist ein umständlich formulierter Satz im hinteren Viertel eines Schriftstücks, das sich Friedensvertrag nennt, aber in Wahrheit ein Strafgericht ist. Artikel 231 des Versailler Vertrags vom 28. Juni 1919 lautet: "Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber aller Verluste und aller Schäden verantwortlich sind, welche die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Angehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben." Dieser Satz liefert der Debatte über die Kriegsschuld von 1914 Stoff bis heute. Wohlgemerkt: Von moralischer Schuld ist im ganzen Versailler Vertrag explizit keine Rede — Krieg war damals kein Verbrechen. Die Verbitterung, die dieser Satz in Deutschland auslöst, ist dennoch immens.

Artikel 231 enthält freilich mehr als nur ein Korn Wahrheit: Deutschland und sein Verbündeter Österreich-Ungarn haben vor allem zu Beginn nach Kräften zur Verschärfung der großen Krise 1914 beigetragen. Russland und Frankreich, selbst Großbritannien taten das am Ende auch; die erste Eskalation aber ging von Berlin und Wien aus.

Zwangsläufig war dieser Krieg nicht

Doch der Reihe nach: Am 28. Juni 1914 wird im damals österreichischen Sarajevo der habsburgische Thronfolger Franz Ferdinand von dem bosnisch-serbischen Extremisten Gavrilo Princip erschossen. In Wien wittert man die Chance, dem verhassten Serbien endgültig den Hals umzudrehen, und versichert sich der Rückendeckung aus Berlin — 5. Juli. Österreich formuliert ein Ultimatum an Belgrad, betreffend die Aufklärung des Attentats, so scharf, dass Serbien es eigentlich nicht annehmen kann — 23. Juli. Serbien hat tatsächlich einzelne Vorbehalte, worauf Österreich mit Kriegserklärung und Beschießung Belgrads antwortet — 29. Juli.

Den finalen Automatismus aber löst einen Tag später Serbiens Schutzmacht Russland mit der Mobilmachung aus. Jetzt reagiert das Deutsche Reich und erklärt Russland den Krieg — 1. August. Dessen Verbündeter Frankreich ignoriert die deutsche Forderung, neutral zu bleiben, was ebenfalls zur Kriegserklärung führt — 3. August. Großbritannien schließlich tritt in den Krieg ein, als Deutschland für seinen Aufmarsch im Westen (Alternativen zu diesem "Schlieffen-Plan" gibt es nicht mehr) das neutrale Belgien beansprucht — 4. August.

Zwangsläufig war dieser Krieg nicht. Zwangsläufig ist Geschichte nie. Auch 1914 hätte alles so weitergehen können wie die Jahre zuvor, zumindest eine gewisse Zeit. Der Historiker Thomas Nipperdey hat für die Innenpolitik des Kaiserreichs den Begriff der "stabilen Krise" gefunden; in Europa war es nicht viel anders: Die Nationen wetteiferten um Geltung, Einfluss, Macht — das Resultat waren diplomatische Krisen in Reihe. Jedes Mal hielt der Frieden — aber jedes Mal wurde auch Krieg wahrscheinlicher. Jedes Mal festigen sich die Bande zwischen den Verbündeten Frankreich und Russland, zu denen 1907 auch Großbritannien kommt.

"Keiner der Akteure dachte, dass es nötig sein würde, bis zum Äußersten zu gehen"

Die parvenühafte junge Großmacht Deutschland mit ihrem geltungssüchtigen Kaiser hat daran guten Anteil; in Deutschland selbst freilich verfestigt sich die Überzeugung, man sei "eingekreist" worden und zugleich an eine moribunde Donaumonarchie gekettet. Die politische und militärische Elite des Kaiserreichs wähnt sich in der Defensive und verfolgt daher in der Krise 1914 eine offensive Politik des maximalen Risikos — nach dem Motto: Entweder blamieren wir die anderen, oder es gibt eben Krieg.

Das ist die Schnittstelle zwischen langfristigen Ursachen und kurzfristigen Entscheidungen, also der persönlichen Ebene. "Mit den Serben muss aufgeräumt werden, und zwar bald", notiert Wilhelm II. zwei Tage nach Sarajevo; am 6. Juli telegrafiert der Reichskanzler nach Wien, man werde "im Einklang mit seinen Bündnisverpflichtungen und seiner alten Freundschaft treu an der Seite Österreich-Ungarns stehen" — die berüchtigte "Blankovollmacht". Erst ganz zum Schluss versucht Wilhelm, das Schlimmste zu vermeiden — und scheitert. Am 30. Juli räumt Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg ein, "es sei die Direktion verloren und der Stein ins Rollen geraten".

Mit Krieg kalkuliert wird freilich nicht nur in Berlin und Wien. Auch der französische Präsident Raymond Poincaré und Zar Nikolaus II. sind überzeugt, dass Entschiedenheit zum Erfolg führt — ohne Krieg, aber im Notfall eben auch mit Krieg. "Auf beiden Seiten malte man sich aus, dass Bluffen ausreichen würde", schreibt später der französische Attaché in St. Petersburg, Louis de Robien: "Keiner der Akteure dachte, dass es nötig sein würde, bis zum Äußersten zu gehen."

Und London? Kriegsbereitschaft gab es auch hier — unter den liberalen Imperialisten um Außenminister Edward Grey. Eyre Crowe, Abteilungsleiter im Foreign Office und einer der Falken in London, vermerkt am 25. Juli: "In diesem Kampf, der nicht um den Besitz Serbiens geht, sondern bei dem es sich um das Ziel Deutschlands, seine politische Vorherrschaft in Europa zu errichten, und um den Wunsch der Mächte handelt, ihre individuelle Freiheit zu erhalten — in diesem Kampf sind unsere Interessen mit denen Frankreichs und Russlands verknüpft."

"Die Lampen gehen überall in Europa aus"

Der australische Historiker Christopher Clark hat jüngst die Aufmerksamkeit wieder stärker auf das Verhalten der Briten in diesen Tagen gelenkt. Sie sind eine Kette der Andeutungen, angeblicher oder tatsächlicher Missverständnisse über die britische Neutralität, der allseitigen Vermutungen und Zweideutigkeiten — noch am 1. August taumelt der französische Botschafter Paul Cambon aus einer Besprechung mit Grey in der schockierten Überzeugung heraus: "Sie werden uns im Stich lassen. Sie werden uns im Stich lassen." Erst am 4. August, unter dem Eindruck der Ereignisse in Belgien, entscheiden sich die Briten auch formal für den Krieg.

Niemand weiß, ob der Krieg 1915 oder 1916 begonnen hätte, wenn Franz Ferdinand mehr Glück gehabt hätte. 1914 gab es Krieg, so argumentiert Clark, weil die Komplexität der Krise die Fähigkeit der Akteure (und teilweise auch ihren Willen) überstieg, die Krise zu lösen. An der massiven deutsch-österreichischen Verantwortung ändert das freilich nichts — auch wenn die These des deutschen Historikers Fritz Fischer von 1961, das Kaiserreich habe den Krieg von langer Hand geplant, kaum noch haltbar ist.

Es gibt zwei bekannte englische Zitate über den Kriegsbeginn. Der erste stammt vom späteren Premier David Lloyd George — Europa sei in den Krieg "hineingeschlittert"; der zweite von Außenminister Grey, datiert auf den 3. August: "Die Lampen gehen überall in Europa aus, und wir werden sie zu unseren Lebzeiten nicht mehr leuchten sehen."

Lloyd Georges Satz war ein großer Selbstbetrug. Grey aber hatte recht. Dass ihm die Erkenntnis schon 1914 kam und nicht erst im Nachhinein, macht sie doppelt bitter.

(RP)
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