Düsseldorf Erstes deutsches Retortenbaby wird 30

Düsseldorf · Er heißt Oliver, wog 4150 Gramm und entwickelte sich prächtig – vor 30 Jahren wurde das erste deutsche Retortenbaby geboren: Heute scheint die künstliche Befruchtung in der Petrischale längst Routine – aber die Debatte um Fluch und Segen hält an.

Düsseldorf: Erstes deutsches Retortenbaby wird 30
Foto: dpa, Quick

Er heißt Oliver, wog 4150 Gramm und entwickelte sich prächtig — vor 30 Jahren wurde das erste deutsche Retortenbaby geboren: Heute scheint die künstliche Befruchtung in der Petrischale längst Routine — aber die Debatte um Fluch und Segen hält an.

Oliver hat kein Interesse daran, als besonderer Mensch gefeiert zu werden. Weder ist bekannt, wie er seinen 30. Geburtstag verbringen wird, noch steht er für Interviews zur Verfügung. Dem ersten deutschen Retortenbaby folgten einige Hunderttausend weiterer Kinder. "In Deutschland sind inzwischen drei Prozent aller Lebendgeborenen das Produkt einer Sterilitätsbehandlung", sagt Jan-Steffen Krüssel, Präsident der deutschen Gesellschaft für Reproduktionsmedizin.

Das vor 30 Jahren spektakuläre Verfahren ist längst Normalität geworden. Auch die Universitätsklinik Erlangen, in der damals unter Leitung von Siegfried Trotnow die deutsche Pionierarbeit für künstliche Befruchtung geleistet wurde, winkt ab. "Für uns ist das heute kein Thema mehr", sagt Matthias Beckmann, heutiger Leiter der Frauenklinik, "das läuft alles in spezialisierten Arztpraxen."

Robert G. Edwards, Anfang der 70er Jahre Begründer der künstlichen Befruchtung, wurde 2010 trotz der Proteste des Vatikans der Nobelpreis zugesprochen. Die Queen hat ihn geadelt und die künstliche Befruchtung steht gewöhnlich in allen Listen, die über die 100 wichtigsten Erfindungen der Menschheit geführt werden. Ein weiteres Anzeichen für den Übergang in die Normalität: Die obersten Gerichte haben längst entschieden, wer die nicht geringen Kosten für die Hilfe beim unerfüllten Kinderwunsch zu tragen hat: in der Regel Krankenkassen und die Eltern je zur Hälfte.

Vor 30 Jahren war das noch anders. Das Erlanger Klinikum wurde quasi belagert, den Kindern und auch ihren Eltern eine düstere Zukunft vorhergesagt. Kinder, die künstlich gezeugt werden, seien deswegen nicht so akzeptiert und würden selbst psychische Probleme haben, lautete eine der zweifelhaften Prognosen, die den Eltern mit Kinderwunsch mit großer Brutalität entgegengehalten wurde. Die Aussage von den entwürdigenden Bedingungen unter denen die Befruchtung stattfinde, ist ein anderes Vorurteil. Beide haben sich in vielerlei Studien als falsch erwiesen: Die Gesellschaft musste lernen, dass die Liebe zum Kind und die Entwicklung des Menschen nicht durch die Art des Zeugungsakts festgelegt werden.

Fraglich bleibt indes, ob es für Paare eine Art Recht auf ein eigenes Kind gibt. Die katholische Kirche verneint das noch immer: Sie sieht in der Kinderlosigkeit ein Schicksal, in das man sich fügen müsse, und in manchen katholisch dominierten Ländern ist das Verfahren deshalb immer noch verpönt.

Weltweit liegt in Europa der Schwerpunkt der Anwendung: Immerhin 71 Prozent aller registrierten künstlichen Befruchtungen wurden im Jahr 2007 hier durchgeführt, in absoluten Zahlen liegen Frankreich, Deutschland, Spanien und Großbritannien vorn. 18 Prozent der Eltern durften sich über Zwillinge freuen. Die Frauen sind meist zwischen 30 und 39 Jahre alt, was nicht überrascht, weil Frauen in den 20ern leichter schwanger werden. Bezogen auf die Bevölkerungsgröße dominiert Dänemark vor Belgien und Finnland. Statistisch haben von einer Million dänischer Frauen (und Männer) 14 057 künstliche Befruchtung genutzt.

Doch trotz aller Zahlen darf nicht übersehen werden, dass doch nicht alles Routine ist. Die Erfüllung des Kinderwunsches etwa: Auch künstliche Befruchtung ist nicht immer erfolgreich — ein Drittel der Paare bleibt trotz mehrfacher Versuche ohne Nachwuchs. Statistisch tragen Mann und Frau dafür übrigens gleichermaßen die Verantwortung.

Die Forschung geht natürlich weiter, sie konzentriert sich aber immer mehr auf Spezialfälle. Zum Beispiel in Erlangen, Olivers Geburtsort. Dort wollen die Ärzte Frauen zum Mutterglück verhelfen, bei denen die Eierstöcke (meist durch Krebs) geschädigt sind.

Auch ethisch bleiben wichtige Fragen offen, die zumeist mit der Präimplantationsdiagnostik zusammenhängen, bei der das künstlich befruchtete Ei vor der Einpflanzung in die Gebärmutter intensiv untersucht wird. Entweder auf das Vorhandensein von Erbkrankheiten. Oder schlicht und einfach auf das Geschlecht des Kindes. Mindestens aus Großbritannien und Kanada sind Fälle bekannt, bei denen Mädchen von ihren Eltern abgelehnt und die Eizelle wohl in der Mülltonne entsorgt wurden. Als die künstliche Befruchtung entwickelt wurde, haben sich die Eltern noch über jedes Geschlecht gefreut.

(RP/rm/das)
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