Atomruine in Tschernobyl Neue Hülle, alte Probleme

Tschernobyl · Eine gigantische Stahlkuppel soll das 1986 zerstörte Atomkraftwerk Tschernobyl versiegeln, damit keine radioaktive Strahlung austreten kann. 1200 Arbeiter aus 27 Nationen halfen beim 1,5 Milliarden Euro teuren Bau. Doch der hält nicht für immer.

 Das Foto von Anfang November zeigt die neue Schutzhülle für die Atomruine Tschernobyl, die über den havarierten Reaktor zu gleiten beginnt.

Das Foto von Anfang November zeigt die neue Schutzhülle für die Atomruine Tschernobyl, die über den havarierten Reaktor zu gleiten beginnt.

Foto: dpa, EPA/EBRD PHOTOSTREAM

In diesem Sarkophag ruht ein Untoter. Bis zu 200 Tonnen Uran und Plutonium sollen Experten zufolge noch im Reaktor 4 des zerstörten Atomkraftwerks Tschernobyl schlummern.

Die Halbwertszeit dieser Stoffe liegt bei mehreren Tausend Jahren. Es ist die Zeitspanne, in der sich die radioaktive Strahlung halbiert hat. Bis sie ganz verschwunden ist, werden weitere Jahrtausende vergehen.

Damit nichts von den todbringenden Materialien in die Umwelt gelangt, gibt es nun das "New Safe Confinement". So lautet die offizielle Bezeichnung des neuen Sarkophags: "Neue Sichere Haft". Seit Dienstag umhüllt er die Atomruine samt dem alten, provisorischen Sarkophag. Der ist in den vergangenen 30 Jahren brüchig geworden - kein Wunder bei der Strahlung, die seit dem Gau auf ihn einwirkt.

Wer die neue Schutzhülle beschreiben möchte, kommt um Superlative nicht herum: 36.000 Tonnen schwer und damit dreimal so schwer wie der Eiffelturm, 257 Meter breit, 162 lang und 108 Meter hoch.

Die Freiheitsstatue und zwei Jumbojets würden mühelos im Innern Platz finden. Die Hülle soll einem Tornado der Stärke drei (Windgeschwindigkeiten bis zu 250 km/h) standhalten, einem Erdbeben der Stärke sechs (zuletzt in Italien) sowie Temperaturen von minus 30 bis plus 50 Grad. 1200 Arbeiter aus 27 Nationen halfen beim Bau.

"Das ist die größte bewegliche Konstruktion, die jemals von Menschenhand geschaffen wurde", sagte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko gestern bei der Übergabe-Zeremonie. 1,5 Milliarden Euro kostete allein die Konstruktion, 700 Millionen wurden an Folgekosten einkalkuliert. 40 Staaten gaben Zuschüsse.

Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), die den Bau finanziell koordinierte, steuerte ein Drittel der Gesamtkosten bei und ist damit der größte Einzelfinanzier. Für die Ukraine war es eine enorme Entlastung. Gebeutelt durch einen Krieg im Osten und durch eine Wirtschaftskrise wäre das Land alleine niemals imstande gewesen, das Mammutprojekt zu finanzieren.

Mehrere Unternehmen teilten sich die Arbeit an dem Bauvorhaben. Die niederländische Firma Mammoet stellte die Schienen-Hydraulik für den Transport zum Reaktor zur Verfügung. Mobile Kräne und Gerüste kamen aus dem Hause Cimolai aus Italien sowie aus den USA. Die Kalzip GmbH aus Koblenz entwarf die Innen- und Außenhaut der Schutzhülle. Skylotec aus Neuwied half mit Absturzsicherungen für die Arbeiter, und Ejot aus Bad Berleburg lieferte drei Millionen Spezialschrauben. Hochtief war Mitglied des beratenden Konsortiums.

Welche Bedeutung und auch Notwendigkeit die Schutzhülle besitzt, zeigt sich schon am Zeitplan, der penibel eingehalten wurde. Die EBRD kaufte vor Baubeginn das gesamte Material und lagerte es vor Ort neben dem Reaktor. Verspätungen bedingt durch Lieferengpässe waren damit beseitigt.

"Mit ihrer gigantischen Spannweite und Höhe ist die Schutzhülle ein weithin sichtbares Mahnmal für den moralischen und technischen Irrweg der Atomenergie", sagte Bundesumweltministerin Barbara Hendricks. Und Tschernobyls Kraftwerksdirektor Igor Gramotkin befand: "Das sind 36.000 Tonnen unseres Glaubens an den Erfolg, an diesen Ort und unsere Menschen in der Ukraine."

Der Glaube an den Erfolg - er ist es, der Ingenieure, Techniker und Strahlenexperten in den vergangenen sechs Jahren so hart schuften ließ. Und von ihrer Arbeit hängt viel ab. Der Sarkophag ist bereits der zweite für das Ungeheuer Tschernobyl.

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Der erste wurde wenige Tage nach der Katastrophe am 26. April 1986 hastig von der Sowjetunion erbaut. Zuvor schütteten Hubschrauber Sand, Kies und Beton in die offene, nukleare Wunde des Reaktors. Die Stoffe verschmolzen mit dem damals noch glühend heißen Uran zu einer lavaähnlichen Masse, die erst zehn Tage später erstarrte. Sie ist es, die den Kern noch immer so gefährlich macht.

Unter der nun errichteten Schutzhülle soll der alte Sarkophag zunächst abgebaut werden. "Für die Aufräumarbeiten sind im Innern der Hülle unter anderem zwei fast 100 Meter lange Brückenkransysteme montiert. Die Kräne rollen auf Schienen am Boden sowie auf parallel verlaufenden Schienen an der Decke", schildern die Organisatoren den Plan.

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Foto: AP

Der entstehende Müll soll in ein Endlager gebracht werden. Doch für das eigentliche Problem gibt es bisher keine Lösung. Russischen Medien zufolge fehlen für die Räumung der 1700 Brennstäbe Geld und ein Konzept. Um beides heranzuschaffen, bleiben nun 100 Jahre Zeit. So lange soll die neue Schutzhülle halten.

(jaco)
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