Gent Gent - Manhattan des Mittelalters

Gent · Die Stadt in Flandern hat eine große Geschichte - und ist doch quicklebendig. Auch dank der Kunst.

Vielleicht sollte man all das jetzt lieber nicht schreiben. Weil dann nämlich Gent genau das bliebe, was es jetzt noch ist: ein Geheimtipp. Die geschichtsträchtige belgische Stadt am Zusammenfluss von Schelde und Leie ist bislang verschont geblieben vom Massentourismus. Weder drängeln Horden von Sauftouristen durch die Kneipenviertel, noch werden behäbige Gruppen von Kulturtouristen in Funktionskleidung an Baudenkmälern vorbeigeschoben. Gent ist eine quirlige Stadt, in der die wenigen Individualtouristen kaum auffallen. Kein Wunder, Gent gehört den Gentern und ist eine Studentenstadt: Knapp 65.000 Studierende prägen die Atmosphäre der etwa 250.000 Einwohner zählenden Stadt. Neben der Uni verteilen sich die Studenten auf die mitten in der Stadt liegenden Kunstakademien und Hochschulen, auf das Königliche Konservatorium und die katholische Hochschule St. Lieven.

Die Restaurant-Szene

Der lässige, weltoffene Lebensstil der Studenten dominiert das Stadtbild und die lebendige Kneipen- und reiche Restaurant-Szene: Von bodenständiger flämischer Küche über exotische Raffinessen bis hin zur feinsten Sterneküche findet der Hungrige in Gent nahezu alles - und zu weit günstigeren Preisen als im 50 Kilometer entfernten Brüssel. Auch und gerade Vegetarier kommen in Gent nicht zu kurz, denn die Stadt hat sich selbst zur "Veggie-Hauptstadt Europas" ernannt und offiziell den Donnerstag zum fleischfreien Tag erklärt.

Gent ist eine lebendige Stadt und hat nichts Museales. Dabei begegnet man der bewegten Geschichte und großen Kultur der Stadt auf Schritt und Tritt. Aber Gent findet mühelos den Anschluss an die unmittelbare Gegenwart. Vielleicht auch deshalb, weil Gent die eigenen Brüche nie kaschiert hat. Gent besitzt eben kein nahezu geschlossenes mittelalterliches Stadtbild wie Brügge. In Gent steht ungeniert Mittelalter neben Barock neben Jugendstil neben postmoderner Bausünde. Und manchmal muss man schon genauer hinschauen, um zu erkennen, ob das nun wirklich eine gotische Tuchhalle ist oder ein neogotisches Amtsgebäude.

Diese unbekümmerte, zitierfreudige Gestaltungslust erzählt viel über den Charakter der Stadt, die sich auch die "stolze Stadt" (de fiere stad) nennt und deren Bürger sich immer wieder gegen ihre Obrigkeiten auflehnten.

Aus keltischen Siedlungen entstanden, wuchs Gent im Mittelalter durch den Tuchhandel und das Stapelrecht auf Getreide zur zweitgrößten Stadt Europas - nach Paris - heran.

Das Manhattan des Mittelalters hat man Gent schon genannt, und die charakteristischen Türme der Altstadt - darunter der glockenbewehrte Belfried - stehen heute noch. Wenn man auf der St. Michael-Brücke über dem zentralen Wasserarm der Stadt steht, drängen sich die Türme zu einem dichten Bild zusammen, in dem man das mittelalterliche Gewimmel zu ahnen glaubt.

Die St. Bavo-Kathedrale

Einer der Türme gehört zur St. Bavo-Kathedrale, die allein mit ihren 22 Altären sehenswert ist. Ihr kostbarster Schatz ist jenes legendäre Altarbild von Jan van Eyck aus dem Jahr 1432, das die Anbetung des Lammes Gottes zeigt: detailreich und farbmächtig, geheimnisvoll in seiner Symbolsprache und dazu umgeben von einer rätselhaften Aura. Teile dieses epochalen Kunstwerks mit seiner ebenso abenteuerlichen Geschichte - Kinogänger erinnern sich an "Monuments Men" mit George Clooney - werden derzeit aufwendig restauriert.

Den Fachleuten mit der Lupe und den winzigen Schabmesserchen kann man bei der Arbeit im "Museum voor schone Kunsten" bei ihrer Millimeter-Arbeit zusehen. Und danach ungestört durch die Sammlung des Museums flanieren, die in luftiger Hängung Meisterwerke von Hieronymus Bosch bis James Ensor präsentiert.

Das "Stedelijk Museum voor Actuele Kunst"

Nebenan im weitläufigen Citadelpark liegt das "Stedelijk Museum voor Actuele Kunst", kurz S.M.A.K., das Zeitgenossen ausstellt. Derzeit kann man sich mit der Schau "Drawing. The Bottom Line" einen Überblick über den Stand der Dinge in Sachen Zeichnung verschaffen. Die gern als zweitrangig gewertete Gattung befindet sich in einer Renaissance und die sorgfältig kuratierte Schau unterstreicht das nachdrücklich. Von Adel Abdessemed bis Jorinde Voigt reicht die Liste prominenter Gegenwartskünstler, deren Arbeiten über das ganze Haus verteilt sind. Die Zeichner des 21. Jahrhunderts erweitern die Wahl der Mittel, brechen auf ins Dreidimensionale, zeichnen Trickfilme und bauen verwirrende Installationen.

Oper und Theater

Die Kunstszene blüht in Flandern, zahlreiche Künstler haben dort ihre Ateliers und suchen den Kontakt mit den angrenzenden Künsten. Auch Musik und Theater sind in Gent erstklassig vertreten: Das NT Gent gilt als eine der innovativsten Bühnen, von der Impulse nach ganz Europa ausgehen. Johan Simons, der amtierende Intendant der Ruhrtriennale, ist auch künstlerischer Leiter am NT Gent, seiner künstlerischen Heimat. Der Triennale-Gründer und Opern-Mann Gerard Mortier war bekennender Genter und hat immer betont, dass sein spartenübergreifendes Denken die Frucht seiner Genter Herkunft war. Das Genter Haus der Vlaamse Opera - das andere steht in Antwerpen - bietet Operninszenierungen auf der Höhe der Zeit.

(RP)
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