Historiker erklärt '68 in der Region "In NRW musste man konziliant sein"

Düsseldorf · 68 - da denkt man an Berlin und Frankfurt. Was aber passierte in Düsseldorf und Münster? Ein Historiker über den Protest in der Region.

 Düsseldorf, 12. Juni 1968: Was nach Gewaltexzess aussieht, ist vorerst nur ein drohendes Happening. Studenten zünden ein mitgebrachtes altes Auto auf der Kö an, um gegen die Bildungspolitik zu demonstrieren. Dazu rufen sie: "Heute Auto, morgen Landtag!" Später schleppen sie das Wrack vors Kultusministerium.

Düsseldorf, 12. Juni 1968: Was nach Gewaltexzess aussieht, ist vorerst nur ein drohendes Happening. Studenten zünden ein mitgebrachtes altes Auto auf der Kö an, um gegen die Bildungspolitik zu demonstrieren. Dazu rufen sie: "Heute Auto, morgen Landtag!" Später schleppen sie das Wrack vors Kultusministerium.

Foto: dpa

Was schenkt man einem Revolutionär? Einen roten Strampler. Rudi Dutschke ist gerade Vater geworden, und so hat Johannes Rau, Chef der SPD-Landtagsfraktion, leichtes Spiel. Am 4. Februar 1968 treffen die beiden sich in Wattenscheid, um über Demokratie zu diskutieren. Dutschkes Sohn Hosea-Che dürfe trotzdem in die SPD, scherzt Rau. Bis der groß sei, gebe es die SPD nicht mehr, pariert Dutschke. Drei Stunden streitet man, aber die befürchteten Krawalle bleiben aus. Die Anmutung ist ohnehin gutbürgerlich: Rau kommt im Dreiteiler mit Schlips, und selbst Dutschke trägt Karohemd und Sakko. Wattenscheid ist ein kleines Sinnbild für 1968 in NRW - viel Streit, wenig Randale. Und doch ein "ziemlicher Bruch", wie der Historiker Thomas Großbölting betont.

Herr Professor Großbölting, um sofort persönlich zu werden: Sie hatten mit 68 persönlich nichts zu tun, weil Sie erst 1969 geboren wurden. Was haben Ihre Eltern 1968 gemacht?

Großbölting (lacht) Meine Eltern sind keine 68er, und ich bin keine Frucht der freien Liebe. Das spricht überhaupt nicht gegen meine Eltern, aber sie sind von 68 wenig berührt. Mein Vater war Volksschullehrer. Der hätte 68 kennenlernen können, wenn er einige Jahre später studiert hätte. Und in der Schule auf dem Land war davon vermutlich wenig zu spüren - ich bin an der Grenze zwischen dem Niederrhein und Westfalen aufgewachsen.

 Thomas Großbölting ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Uni Münster.

Thomas Großbölting ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Uni Münster.

Foto: WWU/dpa

Und wie wurde bei Ihnen zu Hause über 68 geredet?

Großbölting Es war weniger das Elternhaus, in dem über 68 geredet wurde, sondern die Schule. Vor allem die Lehrer brachten neue Vorstellungen von Autorität mit und vom Umgang der Generationen miteinander, wir haben über Konventionen und Traditionen diskutiert. Das hat meinen Umgang mit 68 geprägt.

War 68 in NRW vor allem konkret oder vor allem weltanschaulich?

Großbölting An den Universitäten, auch in der Provinz, gibt es ideologische Debatten. Aber vieles verliert sich schnell. Was sich darüber hinaus bemerkbar macht, ist eher konkret: der Umgang mit Autoritäten wie Pfarrern und Polizisten zum Beispiel, Mode, Musik, Lebensstil - lange Haare und kurze Röcke.

Der Protest ist vielfältig: Es gibt (wie in Köln) Aktionen gegen höhere Nahverkehrspreise. Studenten in Münster demonstrieren gegen den "Bildungsnotstand". 1968 werden Straßen und Rektorate besetzt, die Kölner Uni wird nach Rosa Luxemburg benannt (und von christdemokratischen Ironikern erneut umgetauft, in "Radio-Luxemburg-Universität"). Die Teilnahme Düsseldorfer Studenten am Rosenmontagszug führt zum Eklat - die Zugleitung lässt den Wagen erst mitfahren, nachdem die Studenten geloben, nicht zu provozieren. An der Düsseldorfer Kunstakademie ignoriert Joseph Beuys den Numerus clausus und nimmt abgelehnte Studenten auf; 1968 entsteht die linke "Lidl-Akademie" als Gegeneinrichtung. Die Akademiegeschichte verzeichnet einen Polizeieinsatz und eine fünftägige Schließung.

In Münster kommt der Höhepunkt spät, und er dauert nur 45 Minuten. Studenten spritzen Anfang Juni 1969 durchs Fenster Wasser auf die Professoren der Philosophischen Fakultät - sie wollen den Dekan mitwählen. Als die Polizei anrückt, fliegen Steine. Das Gebäude wird rabiat geräumt; die Studenten sprechen von "Polizeiterror".

Wie kommt es zu den Reibereien?

Großbölting Professoren fühlen sich häufig in ihrer Autonomie verletzt, wenn Studenten dazwischenquatschen oder Farbeier geworfen werden. Vieles entzündet sich auch an schlechten Studienbedingungen. In Münster greift die Polizei unverhältnismäßig hart ein, das schaukelt den Konflikt hoch. Abseits der Universitäten, wie beim Protest gegen die Notstandsgesetze, sehen wir häufig eine Reaktion auf die Politik.

Warum ist die Eskalation in Berlin oder Frankfurt größer?

Großbölting Die Polarisierung ist zum Beispiel in Berlin als "Frontstadt" des Kalten Krieges schärfer. In Frankfurt sitzen die marxistischen Professoren der Frankfurter Schule als Diskussionspartner. In Nordrhein-Westfalen fehlen solche Öffentlichkeiten. Zudem hat die sozialliberale Landesregierung durchaus Verständnis für die Forderungen der Studenten etwa nach mehr Teilhabe und dämpft damit den Konflikt. Wir sollten die Ereignisse in NRW aber nicht kleinreden - das ist schon ein ziemlicher Bruch.

War 68 in NRW eine liberale Veranstaltung, anders als es Protagonisten in Berlin und Frankfurt wollten?

Großbölting Auch in Nordrhein-Westfalen bilden sich die K-Gruppen, die sich sektiererisch über Ideologie zerstreiten. Dafür fehlt aber letztlich der Resonanzraum. Einzelne mögen genauso ideologisch borniert gewesen sein wie in Berlin und Frankfurt. Aber wer in NRW sein Publikum erreichen wollte, musste konziliant sein.

Gab es Gewalt in größerem Umfang?

Großbölting Die Gewalt ist sehr begrenzt. Aus der damaligen Perspektive ist schon die Besetzung des Pults im Hörsaal Gewalt. Aber insgesamt bleibt es relativ ruhig. Die wenigen RAF-Terroristen rekrutieren sich nicht aus den Protestmilieus von Nordrhein-Westfalen.

Was hat 68 in NRW bewirkt?

Großbölting Habermas hat auf die Frage, was von 68 geblieben sei, geantwortet: Rita Süssmuth. Das zielt auf die Langzeitwirkung: Süssmuths Familienpolitik als Ministerin war für die CDU ungemein liberal und modern - und eine Spätwirkung von 68, obwohl Süssmuth persönlich von 68 gar nicht berührt worden war.

Hätte es diese tiefgreifende Liberalisierung nicht ohnehin gegeben? Was ist dann noch der Anteil der 68er?

Großbölting Einerseits Beschleunigung, andererseits neuer Umgang mit bekannten Trends. Die Kirchen zum Beispiel verlieren schon lange vor 1968 Mitglieder, aber vorher wurde nicht darüber diskutiert. 68 bietet insgesamt eine neue Sprache, neue Aktionsformen für Proteste.

Ganz allmählich sickert 68 auch aus den Städten durch. Zu Weihnachten agitiert ein Ehemaliger, inzwischen Student in Tübingen, an seinem Gütersloher Gymnasium. Einen sozialistischen Buchladen gibt es in den 70ern auch in Detmold, linke Kommunen auf lippischen Bauernhöfen. Das "lange 68" hat begonnen - sogar auf dem platten Land in Nordrhein-Westfalen.

(fvo)
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