Moskau Irina Antonowa – die Hüterin der Beutekunst

Moskau · Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg lud sie in Moskau die aus Deutschland kommende Beutekunst aus – und bestritt dann als Chefin des Puschkin-Museums jahrzehntelang, dass die UdSSR solche Kunst besitzt. Ein Porträt.

Der sowjetische Regierungs-Chef Nikita Chruschtschow berief Irina Antonowa 1961 zur Direktorin des hoch angesehenen Moskauer Puschkin-Museums und setzte damit ein kulturpolitisches Zeichen. Für mehr als fünf Jahrzehnte wurde die Chefin dieses nach Russlands Nationaldichter benannten Hauses der bildenden Kunst zur Ansprechpartnerin von Museen im Westen, die um Leihgaben baten und sich auch darüber hinaus um Kulturaustausch bemühten.

Zugleich bewahrte die Kunsthistorikerin bis 1992 ein Geheimnis: Sie stritt ab, dass die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg Kunstschätze aus Deutschland als Beute nach Russland hatte transportieren lassen, obwohl sie diese in Moskau selbst mit ausgepackt hatte. Jetzt hat die Frau mit den zwei Gesichtern ihr Amt 91-jährig aufgegeben.

Freiwillig hat sie diesen Schritt vermutlich nicht vollzogen, denn er stand in unmittelbarem Zusammenhang mit einem erneuten Aufflackern des deutsch-russischen Streits um die Beutekunst. Nachdem Präsident Putin den mit Angela Merkel gemeinsam geplanten Besuch einer Beutekunst-Ausstellung in der St. Petersburger Eremitage beinahe abgesagt hätte und die deutsche Bundeskanzlerin das Thema Beutekunst dann kritisch angesprochen hatte, schien die Zeit einer Hardlinerin wie Irina Antonowa endgültig abgelaufen zu sein. Sie bekleidet nur mehr den eilig für sie geschaffenen Posten eines Präsidenten des Puschkin-Museums. Ihre Nachfolgerin ist die 57-jährige Avantgarde-Expertin Marina Loschak, von der sich russische wie deutsche Fachkreise eine Liberalisierung erhoffen.

Dabei war Irina Antonowa keineswegs ein Schreckgespenst für deutsche Museumsleute. Die zierliche, charmante, selbstbewusste Person, die in ihrer Jugend Deutsch gelernt hatte, besitzt die Gabe, ihre Gesprächspartner für sich zu gewinnen. Und sie kam auch gern nach Deutschland, wenn die Kultur wieder einmal eine Brücke schlug – etwa im Jahr 2004, als das Essener Museum Folkwang eine Cézanne-Ausstellung eröffnete, zu der das Puschkin-Museum und die Eremitage bedeutende Leihgaben beigesteuert hatten. Im eigenen Land sorgte die Grande Dame des russischen Museumsbetriebs dafür, dass die Kunst aus Deutschland wieder an die Öffentlichkeit gelangte.

Irina Antonowa ist eine weltgewandte Frau, doch in der Frage, ob Russland die Kunstbeute an Deutschland zurückgeben solle, zeigt sie bis heute Härte. Die begründet sie damit, dass die deutschen Schätze ein gerechter Ausgleich für die Kunstverluste seien, die Deutschland im Krieg der Sowjetunion zugefügt hat. Dass sie und das russische Parlament mit dieser Haltung gegen das Völkerrecht verstoßen, nimmt die Kunsthistorikerin wie der russische Staat für sich in Kauf. Irina Antonowa hortet in dem Museum, dem sie nun als Präsidentin dient, weiterhin unter anderem den "Schatz des Priamos", den Heinrich Schliemann in Troja ausgrub, dazu Kleinodien aus der Merowinger-Zeit und den bronzezeitlichen Goldschatz von Eberswalde.

Wie lange noch? Diese Frage stellt sich im Hinblick auf ihre Nachfolgerin. Die nämlich pflegte in den 90er Jahren einen anderen Umgang mit Beutekunst als Irina Antonowa. Damals arbeitete Marina Loschak als Kunstbeauftragte der Moskauer Stolitschnyj-Bank. Sie baute für dieses Institut eine Sammlung auf und erwarb, wie die Zeitschrift "art" in ihrer Ausgabe 8/1994 berichtete, auch Beutekunst – allerdings "nur von Privatpersonen". Zu den rund 30 Beute-Bildern zählten je ein Werk Lucas Cranachs des Älteren und des Niederländers Jan Steen. Damals erklärte Martina Loschak: "Wir möchten mit deutschen Banken eine Art Tauschhandel betreiben." Beide Seiten sollten Beutekunst erwerben, die jeweils aus dem anderen Land stammt, und gemeinsam ausstellen.

Deutsche Beutekunst von russischen Privatpersonen erwerben – das klingt schon seit Jahrzehnten anrüchig. Denn immer wieder kursierten Gerüchte, dass im russischen Klima der Korruption Beutekunst-Depots geplündert und die Kunstwerke verscherbelt würden. Manches erbeutete Werk tauchte überraschend bei Auktionen auf, und auch Kunst der russischen Avantgarde entwich unkontrolliert aus Museen und wurde im Westen zum Kaufobjekt.

Ob der "Schatz des Priamos" eines Tages nach Berlin zurückkehrt? Noch zögern Russlands Politiker. Denn sie wissen: Die Einstellung, dass die Beutekunst einen wenn auch nur symbolischen Ausgleich für die Gräuel darstellt, welche die Deutschen den Russen im Zweiten Weltkrieg zufügten, ist in der russischen Bevölkerung nach wie vor tief verankert.

(RP)
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