Giessen Kein neues Herz bei irreparablen Hirnschäden?

Giessen · Klinik verweigert türkischem Jungen die Herztransplantation, weil durch die andere Krankheit der Erfolg in Frage gestellt sei.

Ein schwer krankes Kind aus der Türkei sollte in Deutschland ein neues Herz bekommen. Doch dann erlitt es einen Hirnschaden, der laut Einschätzung der behandelnden Kliniken den Eingriff unmöglich machte. Der Junge bekam keinen Platz mehr auf der Transplantationsliste. Ein Vorgehen, das weithin für Entrüstung sorgt - und auch Experten wie der Tübinger Hirnforscher Niels Birbaumer halten das für fragwürdig.

Voller Hoffnung war Familie Dönmez, als sie im März mit ihrem 17 Monate alten Sohn Muhammet Eren von Istanbul nach Gießen reiste. Er sollte am dortigen Universitätsklinikum ein neues Herz bekommen, denn sein eigenes war von Geburt an zu schwach. Doch dann der Rückschlag: Noch in Istanbul hörte das Herz des Jungen plötzlich auf zu schlagen. Er wurde zwar wiederbelebt und an ein Kunstherz angeschlossen, doch laut Einschätzung der Ärzte war es zu "irreparablen Hirnschädigungen" gekommen. Muhammet wurde nicht mehr auf die Warteliste für ein Spenderherz gesetzt. Man prüfe stattdessen, wie das Klinikum in einer Erklärung mitteilte, "eine Verlegung in eine andere Klinik".

Eine Entscheidung, die nicht nur bei den Eltern Empörung ausgelöst hat. Maria Klein-Schmeink, gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen, spricht von einem "schweren Rückschlag für das Vertrauen und die Akzeptanz von Organtransplantationen", auf Internet-Foren ist sogar von "ethischem Mord" die Rede, und Klinikmitarbeiter sollen schon bedroht worden sein. Das Klinikum begründet seine Entscheidung damit, dass nach herrschendem Gesetz eine Herztransplantation ausgeschlossen sei, "wenn eine schwerwiegende Erkrankung eines anderen Organs vorliegt, die den langfristigen Erfolg der Transplantation in Frage stellt". Und genau dies sei bei Muhammet gegeben. Doch an diesem Punkt melden Experten erhebliche Zweifel an: So verweist Björn Nashan von der Deutschen Transplantationsgesellschaft auf die "erstaunliche Erholungsfähigkeit des kindlichen Hirns". In seiner Klinik, dem UKE Hamburg-Eppendorf, bekamen hirngeschädigte Kinder durchaus ein Organ transplantiert, wobei das individuell entschieden wurde. Auch Hirnforscher Niels Birbaumer von der Universität Tübingen betont das Erholungspotenzial kindlicher Hirne, er habe da schon erstaunliche Fälle erlebt. Denn das Gehirn sei aufgrund seiner neuronalen Plastizität - so könnten beispielsweise gesunde Hirnareale die Aufgaben von geschädigten Arealen übernehmen- geradezu dafür prädestiniert, "sich selbst aus dem Sumpf seiner Erkrankungen zu ziehen". Es komme immer wieder vor, dass Patienten sogar nach jahrelangem Koma wieder aufwachten. Und das nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen.

Birbaumer warnt außerdem davor, schon binnen weniger Wochen von einem irreparablen Hirnschaden zu sprechen. Denn der liege eigentlich erst beim Hirntod vor, der wiederum erst dann zweifelsfrei diagnostiziert ist, wenn sich in vier bis acht Wochen EEG (Elektroenzephalografie) keinerlei Schwingungen und niederfrequente Spannungsverschiebungen zeigen würden.

Die jüngste Entwicklungen Muhammets lassen hoffen, dass auch sein Gehirn sich wieder erholen wird. In der Nacht zum 23. Juli erlitt er zwar einen herben Rückschlag, doch hat er sich davon wieder erholt. So nimmt er wieder Blickkontakt auf, reagiert auf Töne und lächelt. Seit einigen Tagen kann er auch wieder selbstständig atmen.

Trotzdem haben die Transplantationszentren in Wien und Rotterdam abgelehnt, dem Jungen ein neues Herz zu verpflanzen. Andere Kliniken in der Schweiz und den Niederlanden prüfen noch, ob sie den Eingriff wagen. Das Problem könnte sein, dass kein Geld mehr dafür da ist. Denn die Mittel für Muhammets Behandlung, die sich bisher auf 600 000 Euro belaufen, sind aufgebraucht. Die Eltern hatten sie größtenteils über Spenden zusammengekratzt. Ein neues Herz hat er immer noch nicht.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort