Klassik für den Sommer

Zu den Binsenweisheiten unserer Kultur zählt, dass Musik an Jahreszeiten hängt: Ohne den Sommer kommt sie überhaupt nicht aus. Ins robuste Binsengras legt sich der Musikfreund vor allem beim Schlager, etwa in Jürgen Drews' von Juni an verfügbarem "Bett im Kornfeld" oder Peter Maffays spätpubertärem "Und es war Sommer". Fachleute sagen noch präziser: Jeder zweite Song spielt im Sommer. Und wenn er noch nicht da ist, wird er breitmundig angekündigt und herbeigefleht wie von Konstantin Wecker: "Wenn der Sommer nicht mehr weit ist".

Da kann die Klassik auf den ersten Blick nicht mithalten und verhält sich g'schamig. Sie will nicht über 34 Grad Celsius ins Brüten geraten oder Klänge ausschwitzen. Dabei ist der Sommer immer auch ihr Thema gewesen, nur eben nicht anbiedernd in der Überschrift. In der Klassik ist der Sommer eine leise Angelegenheit, wobei Vivaldis "Sommer" aus den "Vier Jahreszeiten" fast der schwächste Beitrag zum Thema ist. Es gibt Originelleres, Schöneres und Wahrhaftigeres. Hier eine kleine Hörliste für warme Sommertage und -abende.

Ludwig van Beethoven: 6. Sinfonie F-Dur ("Pastorale")

Spielt dieses Werk im Sommer? Natürlich, wann denn sonst? Es beschreibt eine typisch sommerliche Landpartie, eine typisch sommerliche Szene am Bach, ein typisch sommerliches Gewitter. Leider haben wir das Werk als gemächliche Szene im Kopf, dabei ist das ein erregendes Stück Musik, das niemand so genial aufgenommen hat wie der große Dirigent Hermann Scherchen mit dem Orchester der Wiener Staatsoper. Wer diese furiose Westminster-Aufnahme von 1958 erwerben will (die man nicht mit Scherchens früheren Einspielungen mit demselben Orchester verwechseln soll), muss freilich sommerlichen Schweiß investieren: Sie ist nur im Internet zu finden; auf der (preiswerten) 40-CD-Box von Westminster Legacy ist sie jedoch enthalten. Bei Amazon lässt sie sich als MP3-Datei erwerben - und natürlich in gebrauchten Versionen von Leuten, welche die Sprengkraft dieser Aufnahme nicht einzuschätzen wissen.

Manuel de Falla, "Nächte in spanischen Gärten"

Diese Nächte spielen in einem Juli, wie er auf der iberischen Halbinsel manchmal auch verflucht wird. Dann wird auch noch getanzt. Eigentlich ist das Stück des großen Spaniers Manuel de Falla (1876-1946) ein verkapptes Klavierkonzert. Trotzdem fließt nicht nur der Schweiß, es gibt auch aristokratische Eleganz, Grandezza, flirrendes Leben. Niemand hat das Stück so zart und doch tiefgründig gespielt wie die große Clara Haskil; auf ihrer schönen Platte beim Label Praha findet sich als Erweiterung noch de Fallas legendärer "Dreispitz".

Ottorino Respighi, "Fontane di Roma"

Ein Tag im Leben der römischen Brunnen - wie farbig, funkelnd, prasselnd und plätschernd es rund um Familie Trevi zugeht, zeigt uns einer der großen Orchestermaler unter den italienischen Komponisten: der gebürtige Bologneser Ottorino Respighi (1879-1936). Dessen unversiegliche Liebe galt dem großen Rom, das er in einer schönen Trilogie besungen hat, darin neben den Brunnen auch die Pinien der Stadt. Die klanglich opulenteste Aufnahme stammt aus der neuen Welt und wird von einem in China geborenen Japaner dirigiert: Seiji Ozawa und das Boston Symphony Orchestra bieten auf der CD der Deutschen Grammophon einen kaum zu überbietenden klanglichen Luxus.

Georges Bizet, "Carmen"

Dass der Sommer mitunter tödlich endet, wenn er Eifersucht treibt, zeigt uns eine der großen Opern der Musikliteratur: Georges Bizets "Carmen". Sie ist ohne das sinnliche Flair und die dumpfe Wucht des Sommers nicht zu denken. Die Habanera, die Seguidilla, die Torero-Arie - das passt wunderbar auf jede sommerliche Terrasse auch in Mitteleuropa. Wer die perfekte Aufnahme sucht, muss nicht lang überlegen: Seit ewigen Zeiten ist die alte Aufnahme von Sir Thomas Beecham bei der EMI mit Victoria de los Angeles und Nicolai Gedda die unschlagbare Referenz.

Hector Berlioz, "Nuits d'été"

Sommernächte klingen auf Französisch besonders schwül und apart, und wenn ein Fanatiker der Klangverfeinerung wie der Franzose Hector Berlioz die Sommernacht besingen lässt, dann kreisen der Wein und die Erotik. Hier braucht der Musikfreund einen groß und expressiv getönten Mezzosopran mit Tiefe, Resonanz und Raffinement. Bei harmonia mundi ist mit der famosen Bernarda Fink eine herrliche CD entstanden, auf der das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin unter Kent Nagano atemberaubend atmosphärisch begleitet.

Bach, Brandenburgische Konzerte

Wer hätte gedacht, dass Bachs köstliche sechs Brandenburgische Konzerte eine sommerliche Komponente besitzen? In der Tat gleicht manches Finale einem moussierenden Champagner, den man bei lauen Lüftchen schlürft; anderes hat sinnlichen Tiefgang. Die Musik ist ausgelassen. Wer die beste Einspielung sucht, muss sich nur an den Hirsch im Parkhaus halten: Diese Szene ist keine Benebelung der Sinne unter sommerlicher Hitze, sondern das witzige Covermotiv der Einspielung mit dem Concerto Italiano unter Rinaldo Alessandrini. Sie ist beim Label naïve erschienen.

Debussy, "Prélude à l'après-midi d'un faune"

Der Symbolismus eines Stéphane Mallarmé kennt mehr als vier Jahreszeiten, er ist so schillernd wie die Welt, um die er sich ehrfurchtsvoll und zugleich gebieterisch mit Worten kümmert. Auf der musikalischen Seite hatte Claude Debussy für den literarischen Sensualismus das beste übersetzerische Händchen. Sein Vorspiel zum Nachmittag eines Fauns spiegelt nichts anderes als die laszive Besitzergreifung der Welt durch einen Lüsternen, die Musik gleitet, sie changiert - und die Begierde des Fauns ist eine elementar sommerliche Regung, im Winter funktioniert sie nicht. Das exzellente Orchestre philharmonique de Luxembourg unter Emmanuel Krivine hat beim Label Timpani einige Orchesterwerke Debussys eingespielt. Dieser geniale Komponist ist der Meister des Sommers.

(RP)
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