Amsterdam Komponist tadelt Dichter: Brahms vertont Hölderlin

Amsterdam · Das selten aufgeführte "Schicksalslied" mit Texten des "Hyperion" erklingt in einer neuen Fassung für Chor und zwei Pianisten.

Die Soziologie macht vor nichts und niemandem halt, auch nicht vor dem Musikleben. Das 19. Jahrhundert konnte davon laute Liedchen singen: Es beförderte den Bürger zum Musikanten im Kollektiv. Überall gründeten sich Chöre, zugleich florierte die Hausmusik; jeder Mensch war ein Künstler oder nahm als freudiger Zuhörer am konzertanten Leben teil. Und Chöre, die sich keine Orchester leisten konnten, nahmen einfach das Klavier als Surrogat. Die Komponisten fanden das prima - Hauptsache, sie wurden aufgeführt.

Jetzt ist das wenig aufgeführte, aber wunderbare "Schicksalslied" op. 54 von Johannes Brahms in einer Version auf CD herausgekommen, die es von Johannes Brahms gar nicht gibt. Aber es handelt sich um ein geniales Arrangement, zu welchem der Komponist Brahms möglicherweise liebend gern seinen Segen gegeben hätte, weil es der Multiplikation seines Ansehens gedient hätte. Die großartige Cappella Amsterdam unter Leitung ihres Chordirektors Daniel Reuss singt dieses "Schicksalslied" nicht wie im Original mit Orchester, sondern in einer neuen Fassung für Chor mit Klavier zu vier Händen von Karsten Gundermann, einem Hamburger Komponisten und Arrangeur.

Diese Einrichtung hat den Vorteil, dass der Chorsatz nicht vollgemauert, nicht von unerwünschten Klavierklängen tapeziert würde, im Gegenteil: Wenn in Brahms' Orchesterpartitur das Licht des leeren, reinen Chorsatzes leuchtet, herrscht auch in Gundermanns Klavier Ruhe. Die Pianisten Philip Mayers und Angela Gassenhuber spielen so diskret, als wollten sie das ferne Orchester reflektieren, aber auch außen vor lassen, nach dem Motto: Wir brauchen es nicht und sind auch kein billiger Ersatz.

In der dunklen Jahreszeit ist dieses Schicksalslied als herzliche Aneignung Friedrich Hölderlins durch Brahms - der Text entstammt dem "Hyperion" - willkommen. Gegen Hölderlins bitteren Pessimismus setzt Brahms am Ende die Tröstungen der Tonart C-Dur. Selbstbewusst verteidigte er diese Kehrtwendung in einem Brief: "Ich sage ja eben etwas, was der Dichter nicht sagt." Und Brahms nimmt sich sogar das Recht heraus, Hölderlin zu tadeln: Der Dichter hätte besser daran getan, "wenn ihm das Fehlende die Hauptsache gewesen wäre". Das Booklet spekuliert zu Recht, was Brahms denn gefehlt haben könnte: "Transzendenz? Glaube? Trost im Blick über das Irdische hinaus?"

Natürlich hören wir auf dieser beeindruckenden CD aus Amsterdam noch andere Werke, so die weite ausschwingende Motette "Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen" op. 74/1, die fünf Gesänge op. 104 oder die "Fest- und Gedenksprüche". Aber das "Schicksalslied" ist ihr glühender, am Ende optimistisch verlöschender Kern.

(RP)
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