Millionenstädte im Erdbebengebiet Leben über dem Abgrund

Düsseldorf (RPO). Die Welt diskutiert derzeit die Lehren der Katastrophen aus Japan. Eine davon lautet: Der Mensch ignoriert seine Lebensrisiken immer wieder und überall, sobald die Bedrohung nachlässt. Beeindruckender Beleg: das Wachstum der Metropolen auf dem Globus. Nicht nur in Tokio haben sich Millionen Menschen auf erdbebengefährdetem Gebiet angesiedelt.

Die Millionenstädte wachsen. Zahlen der Vereinten Nationen zufolge wird es im Jahr 2015 mindestens 25 Metropolen mit mehr als zehn Millionen Einwohnern geben. An der Spitze liegt der Prognose nach Tokio. Es würde nicht überraschen, wenn sich die Vorhersage bewahrheitet. Der Mensch hat im Laufe der Geschichte eine erstaunliche Ignoranz an den Tag gelegt, wenn es darum ging Risiken zu bewerten.

Bei der Besiedlung der Riesenstädte findet sich dieses Ausblende-Verhalten in millionenfacher Ausprägung. Welcher vernünftige Mensch würde sein Haus und Lebensglück auf einem Stück Erde begründen, das ihm jederzeit unter den Füßen wegbrechen könnte? Die Antwort lautet: Es gibt Millionen davon.

Im Jahr 2015 leben der Prognose zufolge in Tokio 36 Millionen Menschen, in Istanbul sind es 14 Millionen, in Los Angeles 18, in Mexico-City 20. Diese Städte und ihren Bewohner haben eine gemeinsam: Jederzeit könnte eine Katastrophe über sie hereinbrechen. Die Menschen haben dies ausgeblendet, das Risiko war für sie nicht reell zu greifen. Am 12. März erschütterte das eines der größten Erdbeben der Geschichte Japan. In Tokio schwankten die Wolkenkratzer. Entfernung zum Epizentrum: etwa 370 Kilometer.

In Tokio ist die zuvor nur theoretisch greifbare Bedrohung unversehens Wirklichkeit geworden — ähnlich wie das im Zusammenhang mit Atomkraftwerken gehandelte Restrisiko eines Gaus. Vermutlich dürften es den Bewohnern von San Francisco, Los Angeles, Istanbul oder auch Mexico-City beim Anblick der Bilder aus Japan noch etwas mulmiger geworden sein als dem Rest der Welt.

Istanbul

Wie das Nachrichtenmagazin Spiegel im vergangenen Jahr berichtete, spricht das Geoforschungsinstitut Potsdam mit Blick auf Istanbul (Foto oben) von einem "extremen Erdbebenrisiko". Nur 20 Kilometer südlich von Istanbul haben sich demnach große Spannungen in der Erdkruste aufgebaut. Parallele zum Marmarameer vor der türkischen Metropole könnte sich ein Riss von 120 Kilometern parallel zur Küste auftun. Mögliche Stärke: 7,6. Wahrscheinlichkeit: 70 Prozent.

Besonders bemerkenswert an dem Szenario aus Istanbul ist sein Hintergrund: Es ist gar nicht lange her, dass sich ganz in der Nähe der Stadt heftige Erdstöße ereignet haben. 1999 starben bei einem Erdbeben im 100 Kilometer entfernten Izmir etwa 18.000 Menschen. Noch im vergangenen Jahr rief ein Beben im etwa 1200 Kilometer entfernten Elazig in in Ostanatolien den Menschen in Istanbul ihre prekäre Lage in Erinnerung.

"Das nächste Beben wird kommen. Das ist absolut klar", wird in diesem Zusammenhang immer wieder eine Einschätzung von Naci Görür, einem türkischen Geologen, zitiert. Es werde keine Flucht und keine Rettung geben. Schmerz und Tränen würden das ganze Land erfassen.

Los Angeles / San Francisco

Wer schon einmal in den großen Städten Kaliforniens zu Besuch war, hat es vermutlich am eigenen Leib erfahren, wie es ist, wenn dort die Wände schwanken. Die Gläser im Regal schwanken ein wenig, dann ist es nach wenigen Sekunden vorbei. Leichte Beben gehören dort zum Alltag und wenn die insgesamt 17 Millionen Bewohner ehrlich sind, dann wissen sie, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis es richtig knallt.

Nach Recherchen der Wochenzeitung "Die Zeit" beträgt die Wahrscheinlichkeit eines Bebens der Stärke 6,7 oder mehr in den nächsten 30 Jahren 99,7 Prozent. Wie Experten des Geologischen Dienstes der USA errechnet hätten, sei mit einem Beben der Stärke 7,5 oder mehr zu 46 Prozent zu rechnen. San Francisco und Los Angeles liegen am 1100 Kilometer langen San-Andreas-Graben, einem der seismisch aktivsten Gebiete der Erde.

Ein regelrecht beklemmende Parallele zu Tokio besitzt die Lage an der Pazifikküste, wenn man den Blick auf etwa die Region in etwa der Mitte zwischen den beiden US-Städten richtet. Dort liegt das Atomkraftwerk Diablo Canyon - mitten im Erdbebengebiet. Seit Jahren wird über die Sicherheit der Atomkraftwerke an der Pazifikküste diskutiert. Geologen fanden immer neue Verwerfungen in der Nähe der Kraftwerke. Erst an diesem Montag haben kalifornische Abgeordnete Bedenken über die Sicherheitsanforderungen in Diablo Canyon geäußert.

Mexico-City

Auch die Metropole in Mexiko steht in einer Erdbebenregion. Erdstöße gehören ähnlich wie an der Pazifikküste der USA zum Alltag. Wer einmal danach googelt, findet auch in der jüngeren Vergangenheit eine ganze Serie von Berichten über Erdbeben in der Mega-City, oftmals um die 6,0.

Das letzte verheerende Beben ereignete sich vor 26 Jahren. Am 19. September 1985 starben bei der Katastrophe der Stärke von 8,1 auf der Richterskala den Angaben auf Wikipedia zufolge offiziell 9500 Menschen. Nach Angaben der Rettungsmannschaften sollen bis zu 45.000 Menschen obdachlos geworden sein.
Der Attraktivität der Millionenstadt hat das keinen Abbruch getan. Im Gegenteil. Die Bevölkerung wächst, Mexico-City zählt zu den größten Städten der Welt. Für das Jahr 2015 rechnet die UN mit einer Einwohnerzahl von fast 22 Millionen Menschen. Die Entschlossenheit der Menschen, der Katastrophe zu trotzen, scheint ungebrochen. Anstatt sicherere Landschaften zu besiedeln, bauten die Mexikaner den "Torre Mayor", den mit 225 Metern höchsten Wolkenkratzer Lateinamerikas.

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