Oberhausen "Orestie" ohne Götter und Religion

Oberhausen · Theater Oberhausen: Simon Stone übersetzt die griechische Tragödie auf der kleinen Ruhrgebietsbühne ins Heute.

Wenn man die Vorstellung handelnder Götter, wenn man überhaupt Religion ausklammert, was bedeutet es dann, seine Tochter zu opfern? Simon Stone hat im Theater Oberhausen "Die Orestie", die einzige vollständig überlieferte Tragödien-Trilogie der Antike ins Heute geholt. Der 1984 in Basel geborene australische Regisseur, auf dem große Hoffnungen liegen, ließ in seiner Fassung nur noch das grobe Handlungsgerüst Aischylos' übrig, so dass das Stück als Uraufführung auf der kleinen Ruhrgebietsbühne steht, die immer wieder für große Überraschungen gut ist.

Dass Simon Stone den Theaterapparat technisch vor gewaltige Herausforderungen stellt, spürt der Premierenbesucher: "Die Orestie" startet mit halbstündiger Verspätung, während der Vorstellung hört man den Inspizienten verzweifeln. Das Geschehen findet nämlich samt Publikum auf der Bühne statt. Auf vier Tribünen sitzen 170 Besucher rings um einen schwarzen Kubus, der für die blitzlichtartigen Szenen in die Decke fährt und den Blick auf eine Arena eröffnet.

Die Geschichte vom Fluch, der seit Generationen auf der Familie des Atreus lastet, erzählt der Regisseur darin rückwärts wie eine Spurensuche. Was bringt Orest dazu, Mutter Klytaimnestra umzubringen? Warum hat Klytaimnestra ihren Gatten Agamemnon auf dem Gewissen? Wie ist das alles in heutigen Maßstäben denkbar?

Simon Stone lässt seine Darsteller flapsig und schnoddrig daherreden. Orest und Pylades planen Orests Rückkehr am Kickertisch und reflektieren die Strahlkraft der griechischen Tragödie so: "Hamlet oder Star Trek — das ist doch alles der gleiche Sch...". Strophios, Vater des Pylades und Orests Ziehvater, zückt die Cashcard, als er seine Jungs ziehen lässt und faselt in einem langen Monolog von Smartphones und Skype, damit man auch miteinander in Kontakt bleibt. Von Agamemnons mysteriösem Tod erfährt der Zuschauer erst in einem Dialog zwischen Wachdienstler und Raumpflegerin, die sich über die Überwachungskamerabilder austauschen. Und wenn Stone die Geschichte schließlich weitestmöglich von Aischylos weg manövriert hat, schnauzt Kriegsherr Agamemnon den Vegetarier-Freund seiner Tochter Iphigenie an: "Wir verteidigen dein Recht auf Tofu!"

Was es ohne Gott und Religion bedeuten kann, seine Tochter zu opfern, zeigt die berührende Schlussszene: Da leistet Agamemnon passive Sterbehilfe, weil er das Elend der Iphigenie nicht mehr mit ertragen kann. Der Theaterapparat ächzt zwar im wahrsten Sinne des Wortes unter der mit vielen Konventionen brechenden Inszenierung, die lustvoll mit Bezügen zu Pop- und Trivialkultur spielt. Viele Aha-Erlebnisse und ein nicht enden wollender Schlussapplaus zeigen jedoch: Das Wagnis hat sich gelohnt, und es ist aufgegangen wegen eines großartigen Ensembles. Die Darsteller vollbringen den Spagat zwischen Konzentration und Lässigkeit und machen die Atriden so zu Menschen von heute. Glanzpunkte setzt Lise Wolle, deren verbitterte, seelisch und körperlich verkümmerte Elektra genauso nah geht wie die Iphigenie, die ein Schicksalsschlag mitten in der jugendlichen Hybris zu Boden wirft. Drüber schwebt Jürgen Sarkis als verrohter Aigisthos in Adiletten, dem ein aufgeräumter Agamemnon gegenüber steht. Torsten Bauer gibt ihn als tragikomischen Helden, einen Kriegsheimkehrer, der sich als Fremder im eigenen Haus wiederfindet.

(RP)
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