Rheinische Pioniere Professor Reinhard Selten - der Spielmacher

Bonn · Professor Reinhard Selten wirkt seit 30 Jahren in Bonn. Der Mathematiker ist einer der bedeutendsten Spieltheoretiker der Welt.

Dreieinhalb Stunden brauchte der junge Reinhard Selten Ende der 40er Jahre für seinen Weg zur Schule in der hessischen Provinz. Eine lange Strecke für einen Jugendlichen. Statt in dieser Zeit einfach seine Gedanken schweifen zu lassen, beschäftigte sich der Schüler mit mathematischen Problemen der elementaren Geometrie oder Algebra. Ein ungewöhnlicher Zeitvertreib für einen ungewöhnlichen Jungen.

Für Mathematiker und Ökonomen der heutigen Zeit ist es ein Segen, dass der junge Reinhard Selten so früh seine Liebe zur Mathematik und schließlich seinen Weg in die Welt der Wirtschaftswissenschaften fand. Andernfalls wäre die Menschheit um einen der bedeutendsten Spieltheoretiker, die Deutschen um ihren bislang einzigen Wirtschafts-Nobelpreisträger und das Rheinland um einen überragenden Geist ärmer.

Es war kein einfacher Weg, den der im Oktober 1930 in Breslau geborene Selten bis zum Wissenschaftsolymp hinter sich gebracht hat. Der Vater war ein jüdischer Unternehmer, der mit nur dreijähriger schulischer Bildung einen Buchladen und einen Lesezirkel betrieb: Zeitschriften wurden gegen Geld verliehen, je neuer das Datum desto höher die Leihgebühr. Selten, dessen Mutter Protestantin war, bekam als Halbjude früh die Repressalien des Hitler-Regimes zu spüren. Mit 14 warf man ihn von der Schule, er hätte allenfalls eine Anstellung als ungelernter Arbeiter bekommen können.

Doch nach dem Vorrücken der Roten Armee, dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes und der Flucht der Familie Selten von Sachsen über Österreich nach Hessen eröffneten sich neue Perspektiven. Der politisch interessierte Junge begeisterte sich in seinen letzten Schuljahren zunehmend für wirtschaftliche Themen, blieb der Mathematik jedoch zunächst treu, studierte sie in Frankfurt. Fast schon verschämt rechtfertigte sich Selten bei der Nobelpreisvergabe dafür, dass er so lange bis zum Vordiplom benötigt habe. Der Grund: Selten schaute über den Tellerrand hinaus, belegte zusätzlich Vorlesungen für Astrologie, Psychologie und Physik. Doch seine eigentliche wissenschaftliche Liebe und den Grundstein für seinen Erfolg entdeckte er in einem Aufsatz im "Fortune Magazine" zum Thema Spieltheorie. Selten war Feuer und Flamme, beschäftigte sich auch in seiner Abschlussarbeit mit dieser Spielart von Mathematik und Wirtschaftswissenschaften.

In der Spieltheorie geht es darum, die Entscheidungen von Akteuren mit Hilfe mathematischer Modelle abzubilden. Hoch komplex, aber ungemein spannend. Den entscheidenden Aufsatz lieferte Selten im Jahre 1965, als er die Theorie seines Kollegen John Nash fortentwickelte. Zwar wurden beide Wissenschaftler mit einem weiteren Kollegen für ihre Arbeit 1994 mit dem Nobelpreis für Ökonomie ausgezeichnet - doch da hatte Selten längst eine radikale Kehrtwende vollzogen.

Denn schon kurz nach der Veröffentlichung des prämierten Aufsatzes war ihm klar, dass insbesondere eine der getroffenen Annahmen mit der Realität überhaupt nichts zu tun hatte: Die Spieltheorie ging vom "Homo oeconomicus" aus, einem Wesen mit übernatürlichen Fähigkeiten, das in der Wirtschaftstheorie lange kritiklos akzeptiert wurde. Das Prinzip besagt, vereinfacht ausgedrückt, dass der Mensch zu Beginn jeder Entscheidung abschätzen kann, welche Auswirkungen all seine Wahlmöglichkeiten in der Zukunft haben. Er kann jeder zu wählenden Alternative einen konkreten Wert zuordnen, etwa einen finanziellen Gewinn oder Verlust. Ausgestattet mit diesem Wissen, ist er in der Lage, die für seine Ziele optimalen Entscheidungen zu fällen - ein traumhafter Zustand. Aber vor allem ein völlig unrealistischer.

Selten ist dieses Konstrukt zu abstrakt, das andere Spieltheoretiker wie selbstverständlich für ihre Gedankenexperimente heranziehen. "Mehr und mehr kam ich zu der Erkenntnis, dass diese rein spekulative Herangehensweise, wie ich sie selbst in Veröffentlichungen benutzt hatte, nur begrenzt wertvoll war", beschrieb Selten sein Umdenken. "Die Struktur des begrenzt rational ökonomischen Verhaltens kann nicht in einem Sessel erdacht werden, sie muss per Experiment herausgefunden werden."

Mit dieser Haltung ist Selten zu Beginn einmal mehr ein Sonderling. Denn wer an den Grundfesten einer Wirtschaftstheorie rüttelt, ruft zwangsläufig Kritiker auf den Plan. Das Gros der Wissenschaftler lehnt experimentelle Forschung im Bereich der Wirtschaftswissenschaften zunächst ab. Sind die Experimente tatsächlich so gut konzipiert, dass sie die Ergebnisse nicht schon im Vorhinein beeinflussen? Warum spielen Studenten und nicht echte Praktiker die Spiele? Doch Selten kontert: "Auch jedes theoretische Resultat hängt von den Annahmen ab, die die Kollegen vorher getroffen haben." Das Experiment habe der Theorie gegenüber sogar Vorteile: "Wir machen gewisse Annahmen eben nicht, sondern beobachten nur die Probanden. Wenn man uns also kritisiert, muss man die reinen Theoretiker aufgrund willkürlicher Annahmen über das Verhalten erst recht kritisieren."

Selten hält bis heute unbeirrt an seinem Weg fest: "Wir müssen zu einer neuen Entscheidungstheorie kommen, die nicht mehr von dem Optimierungsgedanken ausgeht." Experimente sind das Mittel seiner Wahl. Deshalb macht sich der Forscher in den 80er Jahren auf die Suche nach einer Universität, die ihm dafür die besten Bedingungen schafft. Fündig wird er 1984 in Bonn. "Ich wollte ein computergestütztes Labor für experimentelle Ökonomie, und die Universität Bonn war bereit, mir diesbezüglich deutlich bessere Konditionen anzubieten." Deutlich besser als es sein alter Arbeitgeber, die Universität Bielefeld, konnte. Und so wechselte er vor 30 Jahren an den Rhein. Es entstand zunächst das europaweit erste Zentrum für experimentelle Wirtschaftsforschung und eine langjährige Lehrtätigkeit.

Inzwischen ist der 84-Jährige emeritiert, doch auch wenn er zunehmend mit gesundheitlichen Problemen kämpft und sich derzeit in einem Schweizer Sanatorium erholt, ist er immer noch ein reger Geist und bringt sich bei der von ihm 2006 gegründeten Arbeitsstelle "Rationalität im Lichte der experimentellen Wirtschaftsforschung" in Bonn aktiv ein. "Er ist der geistige Vater unserer Arbeit, hat uns die konzeptionellen Vorgaben für unsere Experimente geliefert", sagt sein Mitarbeiter Martin Hohnisch. "Als wir diese nach der Entwicklungsphase gestartet haben, hat er sich immer wieder eingeschaltet, Details der Experimente und deren Auswertung mitgestaltet."

Die Erkenntnisse von Seltens Arbeitsstelle könnten die Art verändern, wie Ökonomen heute experimentell forschen. Jüngstes Beispiel: Viele Arbeiten in der experimentellen Ökonomik legten nahe, dass Frauen weniger risikofreudig sind als Männer. Allerdings basierte diese Erkenntnis auf einfachen Lotteriespielen. Das war Selten und seinen Mitarbeitern zu wenig, ist die Realität doch deutlich komplexer.

Also entwickelten sie ein Experiment in einer computersimulierten Finanzumwelt, bei der die Spieler über mehrere Perioden fiktiv Geld investieren und vermehren konnten. Das Programm simulierte allerdings auch Krisenszenarien, die den Spieler um sein gesamtes Hab und Gut bringen konnten. Die Forscher beobachteten dann, wie sich Männer und Frauen verhalten. Interessanterweise konnten sie zunächst die These von der zurückhaltenden Herangehensweise der Frauen bestätigen.

Der völlig isoliert agierende Mensch ist allerdings ähnlich utopisch wie der "Homo oeconomicus". Also ließen Seltens Forscher es zu, dass die Spieler zugleich auch das Vorgehen von zwei anderen anonymen Spielern beobachten konnten. Und prompt glich sich das Risikoverhalten von Männern und Frauen an. Solchen Erkenntnissen bereitete Selten mit seiner Arbeit den Weg.

Der mühsame Schulweg in der hessischen Provinz hatte neben der Begeisterung für Mathematik und Wirtschaftswissenschaft noch einen anderen Effekt: Sie beförderten Seltens Wanderslust. Heute bespricht er auf langen Spaziergängen im Siebengebirge mit seinen Mitarbeitern die aktuellen Experimente.

(RP)
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