Serie Luther Und Die Politik (10. Und Letzter Teil) Reformation von oben

Nach den Gräueln des Bauernkriegs propagierte Martin Luther die Einsetzung des neuen Glaubens durch den Landesherrn. Das machte den Protestantismus zur Staatsreligion. Sein Postulat der Gewissensfreiheit förderte hingegen die Demokratie.

Ohne die Politik wäre der Reformator Martin Luther heute vergessen. Es war Kurfürst Friedrich III. der Weise von Sachsen, einer der mächtigsten Fürsten Deutschlands, der sein Landeskind nach dessen Ächtung am 4. Mai 1521 auf dem Wormser Reichstag zuerst durch Freunde vorsorglich "entführen" ließ und dann auf der Wartburg in Schutzhaft nahm. Zuvor hatte der noch mächtigere Kaiser Karl V. ("In meinem Reich geht die Sonne nicht unter") den Erfurter Mönch angehört und dessen neue Lehren verworfen. Bereits Anfang des Jahres hatte Papst Leo X. den Kirchenbann über den deutschen Rebellen verhängt. Mit diesem Verdikt und der Reichsacht wäre Luther erledigt gewesen wie so viele charismatische Prediger vor ihm. Denn die Reichsacht bedeutete eigentlich den sicheren Tod. Doch die sächsische Obrigkeit meinte es gut mit dem Reformator und erklärte 1526 sogar die Luther'sche Lehre für verbindlich. Friedrich, der Gönner Luthers, hatte noch auf dem Totenbett ein Jahr zuvor das Abendmahl nach dem neuen Glauben erhalten.

Der große Reformator war also von Anfang an ins weltliche Geflecht eingebunden, obwohl seine Neuinterpretation des Christentums ausschließlich auf das "geistliche Regiment", das Reich Gottes, zielte. Im weltlichen Bereich hatte das Evangelium nach Ansicht Luthers nichts verloren. Dort sollte die Obrigkeit als von Gott eingesetzte Instanz schalten und walten. Die einfachen Christenmenschen hatten Gehorsam zu leisten. So einfach fiel die Staatslehre Luthers aus.

Ob der Reformator wirklich so naiv war, dass er an die echte Zweiteilung glaubte, ist nicht überliefert. Luther mischte sich aber mächtig in weltliche Dinge ein. So verurteilte er den Bauernkrieg von 1524 und 1525, obwohl die Aufständischen explizit auf die neue Lehre in ihrem Kampf "um das gute alte Recht" Bezug nahmen. Doch anders als sein Mitstreiter Thomas Müntzer, für den das weltliche und geistliche Reich in eines flossen und der die Ideale des Evangeliums mit Hilfe der Bauern schon auf dieser Welt umsetzen wollte, forderte Luther die strenge Bestrafung der Aufrührer. Müntzer hielt er nach anfänglicher Sympathie für einen "falschen Propheten" und "Erzteufel". Dessen Hinrichtung am 27. Mai 1525 dürfte Luther mit Genugtuung erfüllt haben. Denn schon zuvor ereiferte sich der einstige Mönch mit seinem "steche, schlage, würge hier, wer da kann" gegen die "räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern". Luther stand auch hier auf der Seite der Fürsten.

Klar ist, dass der neue Glaube die gesamte Weltgeschichte veränderte. Er spaltete Deutschland in einen katholischen und einen protestantischen Teil und schuf neue Allianzen der Mächtigen. Nach Sachsen wechselten die Kurfürsten von Brandenburg und der Pfalz zum neuen Bekenntnis. Und wenn das Erzbistum Köln 1540 gekippt wäre, hätte den neuen Glauben im Reich wohl niemand mehr aufgehalten. Die europäischen Mächte definierten sich nun nach dem Bekenntnis, die protestantischen Nationen im Norden wie Schweden und Dänemark, das anglikanische England und die reformierten Niederlande. Die Vormächte des Katholizismus waren Habsburg und die Bourbonen in Frankreich, die mit Feuer und Schwert die Reformation bekämpften. Schließlich endeten die Glaubenskämpfe, die über anderthalb Jahrhunderte Europa erschütterten, im Dreißigjährigen Krieg. Das war ein Vernichtungskrieg, der die Bevölkerung Deutschlands um ein Drittel reduzierte. Erst die Weltkriege im 20. Jahrhundert forderten einen noch höheren Blutzoll.

Doch Luthers Lehre begründete unabsichtlich nicht nur die Fürstenherrschaft und die, wie der evangelische Religionsphilosoph und Theologe Ernst Troeltsch feststellte, "gewisse Halbgöttlichkeit" des Staates. Seine Auffassung, dass Fürstenmacht an der Gewissens- und Glaubensfreiheit der Menschen endet, war ein revolutionärer Gedanke. "Er war mit dem Autoritätsanspruch der katholischen Kirche unvereinbar und führte zum Bruch mit ihr", schreibt der Historiker Heinrich August Winkler in seinem ersten Band der "Geschichte des Westens". Das Postulat der Gewissensfreiheit erwies sich wie das neue Staatskirchentum als hochpolitisch. Das hat Luther nicht bewusst herbeigeführt. Denn er war ganz in der Gedankenwelt des Spätmittelalters zuhause. Doch dieser zunächst rein theologische Gedanke fand Einzug in fast alle demokratischen Verfassungen der Welt, ganz prominent im Grundgesetz.

Man kann also mit Recht sagen, dass Luther neben der theologischen auch eine politische Revolution auslöste. Seine individuelle Glaubenslehre, verbunden mit der Gesetzlichkeit der römisch-katholischen Kirche, bildet einen der Eckpfeiler der westlichen Zivilisation. Aus den Glaubenskriegen, so fürchterlich sie auch wüteten, entstand durch die Aufklärung die Forderung, wonach jeder selbst bestimmen dürfe, was er denkt, glaubt und für sein Handeln als richtig befindet. Das alles wurzelt in Luthers Freiheit des Christenmenschen.

Nicht zuletzt beeinflusste Luther auch die moderne Politik. Trotz Französischer Revolution und Atheismus der sozialistischen Bewegungen verstanden sich moderne Nationen wie Deutschland-Preußen, Großbritannien, die USA, die skandinavischen Staaten und die Niederlande als protestantische Länder. Sie wurden von Eliten getragen, die die protestantische Ethik zur Richtschnur ihres Handelns machten. Man mag darüber streiten, ob der Genfer Reformator Jean Calvin mit seiner Prädestinationslehre hier noch einflussreicher war als Luther. Dass Gott für jeden Einzelnen einen Heilsplan bereithält und ihn danach richtet, ist zutiefst lutherisch, weil jeder für sein Heil eine persönliche Verantwortung trägt. Die kann er nicht an eine Kirche delegieren. Luther nimmt hier den modernen Souveränitätsgedanken vorweg.

Heute ist die Zahl der konfessionellen Parteien in Europa rückläufig. Auch die Macht der evangelischen Kirche nimmt in den hoch entwickelten Ländern ab. Trotzdem ist die Wirkmächtigkeit des Protestantismus bis in die jüngste Zeit fast unvermindert vorhanden. Die deutsche Wiedervereinigung wäre ohne evangelischen Widerstand in der DDR undenkbar gewesen, ebenso das Ende des Apartheid-Systems in Südafrika. Und nur ein Blick ins Bundeskabinett mit seinen gläubigen Protestanten zeigt, dass zumindest das persönliche Glaubens- und Ordnungssystem der lutherischen Lehre höchst lebendig ist.

(kes)
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